Am Anfang, sagt Harrison Stafford, war das Nichts. Eine Lücke, dort wo Menschen normalerweise auf ihre Ahnenreihe zurückblicken. Den Sklaven auf Jamaika fehlte jegliches Wissen über ihre Vorfahren und ihre Herkunft. Und auch die Mittel, mehr herauszufinden. So nahmen sie eben das, was gerade verfügbar war. Als die anglikanische Kirche im späten 18. Jahrhundert die aus Westafrika verschleppten Menschen als der Christianisierung würdig befand, erwies sich das Alte Testament als nahe liegende Fundgrube. Kaum verwunderlich, dass sie Parallelen zogen zu den Israeliten im babylonischen Exil, zum Auszug der Kinder Gottes aus der Gefangenschaft, zu Zion, dem gelobten Land.
Dieser symbolische Bezug stand am Beginn der Rastafari-Bewegung, die in den 1930er Jahren in den Slums von Kingston entstand. Während ihr musikalisches Sprachrohr Roots Reggae popkulturell verkürzt bald Jamaika als tropische Variante des Gelobten Landes etablierte, sahen orthodoxe Rastas ihre Erlösung in der Regel anderswo. Wenn Inhalt und Pop sich auf westlichen Tanzflächen in Stücken wie "Iron Lion Zion" begegneten, führte dies nicht selten zu verdutzten Blicken: Was hat Bob Marley denn nun mit Zionisten zu tun, und warum taucht der Löwe von Juda in einem Reggaesong auf?
Harrison Stafford, Sohn einer liberal-jüdischen Familie aus der San Francisco Bay Area, wundert sich darüber schon lange nicht mehr. Sein Vater, selbst Jazz-Pianist, brachte seinen Sohn schon als Kind mit Reggae in Kontakt – und besorgte ihm damit eine Erfahrung, die sich spiegelverkehrt verhält zu jener der bibellesenden Sklaven: "Es ging um Exodus, Abraham und Moses. Ich dachte, das ist ja unsere Kultur", erinnert er sich. Damals lernte Harrison Hebräisch und studierte die Thora. Als Jugendlicher nahmen die Eltern ihn erstmals mit nach Jamacia. Heute wohnt er dort – wenn er nicht auf Tour ist.
Songs von der alten Stadt Hebron und dem Jordan
Zur Zeit ist er mit seiner Band Groundation unterwegs, die er 1998 mit zwei Freunden aus dem Jazz-Musikstudium ins Leben rief. Ihr jüngstes Werk heißt Here I Am. Unter Roots-Reggae-Bands fallen Groundation auf. Ihr Jazzhintergrund zeigt sich in den ausgefeilten Arrangements ihrer Lieder, in Soli und Improvisationsfreude. Im Wortbereich jongliert Stafford indes mit den obligatorischen Elementen Babylon, Zion und Jah (Gott). Das Pflichtprogramm, gewissermaßen. In der lyrischen Kür fällt dagegen schnell auf, wie sehr sich der Textschreiber mit der Materie auskennt. Remember Mount Zion heißt es da, vom paradiesischen Garten Helam ist die Rede, von der jüdischen Festung Masada, von der alten Hauptstadt Hebron und dem Jordan.
Stafford, ein schmaler, charismatischer Mann mit Brille, Turban und freundlichem Lachen unter seinem langen Bart, ist dieser Bezugsrahmen seit der Kindheit vertraut – und doch bewegt er sich heute anders darin, nämlich geprägt von einer afro-karibischen Lesart jüdischer Schriften. "Rastafarians tragen die gleichen Davidsterne", sagt Stafford. Allerdings sind sie oft mit der grün-gelb-roten Flagge Äthiopiens unterlegt. Gleiches gilt für den Löwen von Juda, der zahllose Bandlogos und Albumcover schmückt. Diese Konstellation basiert auf dem Buch Kebra Nagast (Ruhm der Könige), das als die 'verlorene Bibel der Rastafarians' gilt. Es erzählt von der Affäre des judäischen Königs Salomon mit Makeda, der Königin von Saba, aus der, so die Legende, vor 3.000 Jahren der erste äthiopische Kaiser Menelik I. hervor ging.
Von Menelik soll wiederum Haile Selassie abstammen, der Äthiopien von 1930 bis 1936 und zwischen 1941 und 1974 regierte. Ras (Fürst) Tafari Makonnen, so sein ursprünglicher Titel und Name, gilt Rastafarians nicht nur als Wiedergeburt Jahs, sondern gab der Bewegung auch gleich ihren Namen. Ein schwarzer Kaiser in Äthiopien, dem einzigen nicht kolonisierten Land Afrikas, diese Konstellation hatte reichlich Potential zur Mythenbildung. Noch heute sind sich zahlreiche Rastafarians sicher, dass Äthiopien gemeint ist, wenn in der Bibel von Jerusalem oder Zion die Rede ist.
"Die Geschichten sagen alle das Gleiche"
Harrison Stafford sieht das nuancierter: "All diese Geschichten, wie Moses vom Berg Sinai kommt, sagen uns eigentlich immer wieder das Gleiche: Alle sind die Kinder Israels." Bibelfest, wie er ist, hat der Sänger gleich noch eine Thora- Stelle, um dies zu belegen: "Wenn eine Person leidet, egal ob Jude oder Nicht-Jude, leidet das ganze Haus Israel." Zum heutigen Israel hat Stafford dabei ein ambivalentes Verhältnis. "Ich spüre eine tiefe Verbundenheit, wenn ich in Jerusalem alte Steine sehe, die vielleicht schon in den Händen meiner Vorfahren lagen." Er sagt aber auch, die gegenwärtigen rechten Tendenzen in israelischer Politik und Medien seien eine schockierende Konfrontation für eine "bewusste und liberale Band". Er verdreht die Augen, als er von israelischen Hotelzimmern erzählt, in denen nur FOX News an Stelle von CNN oder BBC zu empfangen war.
Auf ihrem neuen Album nehmen Groundation direkt Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. In "From Golan to Galilee" münzen sie ihre Love and Unity-Botschaft auf die Region, ohne dabei allerdings inhaltlich konkreter zu werden. Stafford hat da jedoch so eine Idee, einen alten Plan aus Teenagertagen: Damals wollte er ein gigantisches jamaikanisches Soundsystem nach Jerusalem bringen, es oben auf dem Ölberg installieren und damit die gesamte Gegend beschallen. "Und nicht eher ausschalten, bis wir Gleichheit für alle haben." Der lange Bart hebt sich, Stafford grinst: "Eigentlich will ich das noch immer. "
Groundation sind von 16. bis zum 19. November in Deutschland auf Tour und geben vier Konzerte. Die genauen Tourdaten gibt es .hier
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