Er macht wenig Aufhebens um seine Person und versucht, nie den Boden der Tatsachen unter den Füßen zu verlieren. Möglich, dass diese Eigenschaften Herman Van Rompuy (66) zur fast perfekten Besetzung für einen Posten gemacht haben, auf dem einem jederzeit der ganze Laden um die Ohren fliegen kann. Van Rompuy kennt sich mit erodierenden Gemeinwesen bestens aus: Bevor er 2009 zum EU-Ratspräsidenten gewählt wurde, war er Premier Belgiens und wusste, was es heißt, sich erheblicher Zentrifugalkräfte erwehren zu müssen.
Wenn Van Rompuy – wie am Wochenende in Berlin geschehen – eine Grundsatzrede hält, wird diese zum Hohelied der Realpolitik. Zum Jahrestag des Mauerfalls vor 24 Jahren zog der Christdemokrat Bilanz über ein halbes Jahrzehnt Euro-Krisenmanagement, das er größtenteils in vorderster Linie zu leisten hatte – als Gastgeber häufiger EU-Gipfel, als Moderator und Mediator, Diagnostiker und Therapeut. „Ich bin zufrieden“, so sein Fazit über Rettungsschirme, Schuldenbremsen und Troika-Direktiven. Man habe in vielen Nachtsitzungen ein hektisches Pensum bewältigt.
Van Rompuy, der Schalterbeamte
Es war nicht so, dass Van Rompuy nach Berlin kam, um sich im eigenen Glanz zu sonnen – dafür erscheint dieses Politikerleben zu unprätentiös. Umso mehr konnte er seine Rede aus der Position eines an der EU-Spitze Unangefochtenen halten – anderes wäre etwa EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso widerfahren. Als der Belgier 2009 als erster Ratspräsident antrat, war seine blutarme Aura eine dankbare Zielscheibe für Satire und Spott: Man verglich ihn mit einem Schalterbeamten und machte sich über seinen Nachnamen lustig.
Doch Van Rompuy hat sich behauptet, und das auf dem schwierigen Terrain kontinentaler Alphatiere wie Merkel, Sarkozy, Monti oder Cameron. Der Spiegel nannte ihn einen „Gewinner der Euro- Krise“, der Guardian erhob Van Rompuy zum „Haupt-Problemlöser der Union“, der sich zwischen nationalen Interessen hindurchwinde. Man darf davon ausgehen, dass Van Rompuy, der mit schütterem Haarkranz und runder Brille wie ein gelassener Akademiker daherkommt, so recht auf Instinkt und Fingerspitzengefühl setzen konnte. Es passt ins Bild, dass er nie ins Poltern verfiel. In London etwa dürfte sein Auftritt im vergangenen Winter noch in frischer Erinnerung sein. Regierungschef David Cameron hatte laut darüber nachgedacht, der Beziehung seines Landes zur EU neue, losere Formen zu geben. Daraufhin brachte ihn Van Rompuy umgehend zur Raison, forsch und freundschaftlich: Sobald sich jeder Mitgliedsstaat aus dem europäischen Kuchen nur das herausschneide, was ihm schmecke, könne man die EU getrost abschreiben.
Man fühlte sich an diese Intervention erinnert, als Van Rompuy jetzt in Berlin dem Wiedererstarken partikularer Interessen in Europa wie populistischen Attitüden eine Abfuhr erteilte. Und das mit deutlichen Worten. Er brandmarkte Nationalismus als „Ventil für Wut und Ressentiment“ und als das „Versprechen einer restaurierten Identität“. Irgendwie musste man auch an Guy Verhofstadt denken, einen von Van Rompuys Vorgängern im Amt des belgischen Premiers, der ins Brüsseler Europaviertel zog und sich dort zur grauen Eminenz des europäischen Geistes entwickelte. Vielleicht lag es am Ort des Geschehens, dass Van Rompuy in Berlin ausdrücklich die Krisenpolitik der deutschen Regierung lobte. Das vereinigte Deutschland diene als Modell für das gemeinsame Projekt Europa, so einer der Glaubenssätze. Und es gäbe eine „essenzielle Rolle“ Deutschlands in der Euro-Krise. Man habe „der europäischen Debatte ökonomische Voraussicht injiziert“.
Programmatisch und fade
Niemand wird bestreiten, dass damit Angela Merkel hofiert und gegen Widersacher unter den EU-Spitzen bestärkt werden sollte? Wer dies als Parteinahme deutet, wird an Van Rompuys politischen Hintergrund denken. Bei aller ausgleichenden und vermittelnden Nonchalance bleibt er ein Christdemokrat aus dem Norden der EU, der dem Süden – wenn nicht mit Argwohn, so doch mit skeptischer Beobachtung – begegnet. „Eine Krise exzessiver Verschuldung mit mehr Schulden lösen, funktioniert einfach nicht“, fasst er zusammen, was ihm die politische Kernfrage seines Mandats zu sein scheint. Ähnlich knapp formuliert er in seiner Freizeit gerne Haikus, traditionelle japanische Gedichte, die komplexere Begebenheiten auf etwa 17 Silben zu bringen vermögen.
In dieses Bild realpolitischer Alternativlosigkeit passte schließlich auch der Bezug auf die Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa, der sich der EU- Ratspräsident am Ende seines Vortrags zuwandte. Bekämpfung von Fluchtursachen vor Ort, verstärkte Patrouillen an den EU-Seegrenzen, um gegen die Schlepper vorzugehen – diese Ansätze sind eine erneute Affirmation dessen, was seit Wochen immer und immer wieder zu hören war. Was nicht überrascht. Weshalb sollte ausgerechnet einer der Protagonisten dieser Union über deren Status quo hinausgehen?
Der Auftritt Van Rompuys in Berlin wirkte – ein Jahr vor seinem Ausscheiden aus dem Amt des EU-Ratspräsidenten – auch ein wenig wie die Abschiedsrede eines designierten EU-Pensionärs. „Den Euro retten, die Eurozone sicher und solide machen, das wird das Vermächtnis meiner Generation europäischer Führer sein.“ Programmatisch, aber fade. Herman Van Rompuy bleibt sich einfach nur treu. Kein Ultra, kein Visionär. Die Zeiten sind so, dass er mit seinen Statements gegen die nationalistische Aufwallung wie ein einsamer Hoffnungsträger erscheint.
Tobias Müller schrieb zuletzt über Lampedusa und die EU-Flüchtlingspolitik
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