Tief im Wald

TONABNEHMER GAS: Königsforst (Mille Plateaux/ EFA) Cassius: 1999 (Virgin)

Am Anfang von Techno stand die Anonymität. Keiner wollte Künstler sein, alle wollten es eigentlich nur rumms machen lassen. Ohne Pop und ohne Kultur machte das auch am meisten Spaß, denn wo kein Gesicht ist, kann man auch keins verlieren.

Endlos ließ sich dieser Zustand natürlich nicht beibehalten, und Wolfgang Voigts Ausweg aus dem Dilemma hieß: so viele Projektreihen starten wie möglich. Voigt alias Mike Ink ist so etwas wie der elder statesman der elektronischen Musikszene von Köln. Unter zahlreichen Pseudonymen schießt er seit Jahren diverse Platten in die Umlaufbahn. Er betreibt ein Label namens Profan, wo die Beats eher sperrig stolpern, die Studio 1-Reihe übte sich in Minimal Techno, und Voigts Experimentelle Elektronische Musik-Serie veröffentlicht er als GAS. Experimentell heißt: hier rauscht, knackt und donnert es. Wer dazu tanzen will, soll es versuchen, aber eigentlich wird hier die Grenze zwischen Musik und Geräusch eingetreten. Deshalb erscheinen die GAS-Platten auch bei Mille Plateaux, einem Label, benannt nach dem gleichnamigen Buch der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, das sich auf akustische Grenzüberschreitungen spezialisiert hat.

Was für Kraftwerk der Atommeiler war, ist für die neue Platte von GAS der deutsche Wald. Golden grüßen die Blätter vom Plattencover: Königsforst heißt allerdings nur so majestätisch. Im echten Leben handelt es sich ganz banal um einen Park am Ende einer Kölner Straßenbahnlinie. Doch die Sonntagsspaziergänger klammert Königsforst aus: Wo in Deutschland Wald draufsteht, ist gemeinhin Kultur drin. So auch hier: Zerschrammte Streicherflächen, beruhigend klingelnde Synthesizerspritzer und mittendrin ein warmer, aber solide vorsichhinstampfender Beat. Das klingt manchmal fast ein wenig nach einer elektronischen Endneunziger-Auflage von Krautrock, so sehr trägt sich der Klang selbst davon. Zu guter Letzt ist das natürlich nur Musik, doch was so auftritt, was durch Name und Konzept so sehr einen Anspruch unterstreicht, will mehr sein. Hallo, hier Kultur! ruft Königsforst - Version 3.99. Das hört sich deep an und sieht tief aus.

Ganz anders als die Kölner Waldspaziergänge kommt Cassius daher. Als jüngste Ausgabe französischer Housemusik, die in der Daft Punk-Nachfolge die Tanzflächen, Charts und Musikkanäle erobern. Mit Cassius geht es auf die Motorradrennbahn - im Videoclip sausen hier Comic-Superhelden durch die Beine von dreißig Meter hohen Pin-Up-Girls. Das hat zwar auch einen Siebzigerjahre-Appeal, aber eben nicht das Experimentaljahrzehnt Kölner Provenienz, sondern eher das Pariser Jungs-Kinderzimmer mit allen möglichen Versatzstücken von Trash-Cultur: Motorradrennen und Comics, Disco und Kaugummibildchen. Hauptsache echter als die Realität und größer als das Leben. Dabei gehen die beiden Macher von Cassius bei ihrem Tun strukturell ganz ähnlich vor wie Voigt. Unter vielen verschiedenen Namen bannen sie Stücke diverser Musikstile auf Tonträger und halten dabei möglichst wenig das eigene Gesicht hin, sondern denken sich immer neue Projektidentitäten aus. Die beiden waren für die Knöpfchendreherei bei der ersten Platte von MC Solaar verantwortlich, und nachdem sie so französischem Hiphop einen Sound verpaßt hatten, kreierten sie als Motorbass auch noch die musikalische Vorlage für das, was nun als French House von allen gemocht wird. Als La Funk Mob erfanden sie im Vorbeigehen noch den europäischen Downtempo-Sound. Doch trotz dieser Parallelen ist Cassius all das, was Königsforst nicht ist. Oberflächlich, bunt und sexy, kurz: universal funktionierende Popmusik. Wo sich Königsforst auf der Suche nach neuen Klängen in der Tiefe des Waldes eine mächtige Hochkultur-Aufladung verpaßt, hat Cassius längst gefunden, was es braucht, um die Jugend Europas zum Tanzen zu bringen. Eine Verbindung von House und Hiphop auf der Basis von Funk und ein knalliges Layout.

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