Wie Nähmaschinen, die einen Faden spinnen

Kehrseite "Wenn wa drin sind, kriegste den Arsch voll. Diesma biste dran, da kriegste den Arsch voll" schnauzt eine zwischen Mitte dreißig und fünfzig, ...

"Wenn wa drin sind, kriegste den Arsch voll. Diesma biste dran, da kriegste den Arsch voll" schnauzt eine zwischen Mitte dreißig und fünfzig, undefinierbar alte, wabernde Terrordose ihre kleine Tochter an, die über einem Lutscher hängt, kurz vor dem Humana-Kaufhaus am Frankfurter Tor.
Ich sehe die Stadt, wie sie immer ist, aber ich sehe nicht hin.
Auf dem Weg zu meinem Citibank-Terminal, das für mich immer geöffnet hat, rund um die Uhr, damit ich Geld kaufen kann. Ohne Geld in der Manteltasche habe ich keine Legitimation, längere Zeit auf die Straße zu treten. Zumindest bilde ich mir das jetzt so ein, nach zwölf Jahren kapitalgebundener Zuwachsidentität.
In einem der Zwillingstürme der ehemaligen Stalinallee, die mittlerweile nicht mehr für die einzige Fernsehgerätefirma des Satelliten werben, brennt das ewige Licht. Ich habe mich immer gefragt, wer abends in die Kuppel steigt und die leuchtende Bläue in den Himmel aussendet, blieb aber bis heute ohne Antwort. Den beginnenden Stau in den späten Nachmittagsstunden mit den schroff gezeichneten Vierzigstundengesichtern in ihren Fahrgastzellen, lässt man sich besser entgehen, denke ich. Einzig die Radfahrer tun mir Leid, die auf dieser harten Allee immerzu die Beine wirbeln lassen müssen und Ampelphase um Ampelphase aus dem Tritt geraten. Trotzdem genieße ich die Haltung von Frauen auf dem Velo, vorzugsweise Studentinnen, als kleines Kunstwerk: wie Nähmaschinen, die einen Faden spinnen, überbrücken sie den Weg mit einer gewissen Leichtigkeit.
Ich springe auf die Tram, Nr. 20, den Berg hoch: Richtung Dimitroff. Sichtlich echauffiert, begegnen mir Teile der arbeitenden Bevölkerung. Ich arbeite nicht, ich schreibe, weiß ich den Unterschied für mich zu formulieren.
In einem Antiquariat, das ich gelegentlich besuche, tritt ein Mann, der den Verkäufer nach den Briefen von Tolstoi fragt. Als dieser verneint, tritt der Mann an die Regale und hört, angestrengt verbergend, ohne nach anderen Büchern Ausschau zu halten, unserem Gespräch zu, das wir über Alexander Kluge und anarchistische Philosophen führen. Nach etwa fünf Minuten sagt er "Wiedersehn" und will stracks den Laden verlassen. "Einen Moment noch, entgegnet der Antiquar, Sie sind jetzt der Dritte in ein paar Wochen, der nach Tolstois Briefen fragt und für ein anderes Buch interessieren Sie sich überhaupt nicht. Finden Sie das nicht merkwürdig, ausgerechnet die Briefe von Tolstoi?" - "Nein, ich suche nur diesen einen Titel", sagte der Mann, nicht ohne bemühte Freundlichkeit. Sie sind doch nicht aus dieser Gegend, was wollen sie denn hier wirklich? Ich habe lediglich nach diesem Buch bei Ihnen gefragt und sonst nichts. Guten Abend."
Nachdem der Mann den Laden verlassen hatte, höre ich von dem Antiquar, dass er einer von den Bullen gewesen sein muss. Einer von dreien in den letzten Wochen. "Wahrscheinlich hat er mir noch den Laden verwanzt. In letzter Zeit kommt sowas öfter vor in antifaschistischen Buchläden", spricht er und ich versuche, ihn zu beruhigen.
Eine Frau im Supermarkt muss einige Waren zurückgeben, da ihre Chipkarte nicht erfasst werden kann, vermutlich haben sich Eintagsfliegen auf dem Kondensstreifen niedergelassen, das heißt zwischen die Erkennung gestürzt. Die mittelalterliche Dame, die bar nur über einen Zehner-Schein verfügt, lässt nun das Nichtallernotwendigste wieder ausbonen; entscheidet sich jedoch rechtzeitig für die Flasche Söhnlein Brillant und gegen die ausgewogene Salami und einige andere Nebenprodukte. Wenigstens den Abend will man sich nicht versauen lassen und sei es, man trinkt, weil man nur eine einzige Flasche hat, aus dem Strohhalm.
Das Dunkel vor den Kneipeneingängen nimmt zu und später werde ich noch beim Dichter gewesen sein in der Kastanie. Wir beide, mit Sonnenbrillen vor dem Laptop sitzend, in den Dateien suchend nach Textresten für die Zukunft.

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