Grundgesetz Verstaatlichung, Enteignung, Sozialismus: Die Krise eröffnet neue Blicke auf ein Provisorium – und was die FDP vergessen machen will, entdeckt die Linkspartei für sich
In welcher Verfassung wird sich die Bundesrepublik nach der Krise befinden? Das ist eine Frage, die man sogar ein bisschen wörtlich nehmen kann: Nicht nur, dass die milliardenschweren Krisenkosten behilflich gewesen sind, eine Änderung des Grundgesetzes durchzusetzen, die den Bund haushaltspolitisch einschnürt und die Länder ihrer staatspolitischen Eigenständigkeit beraubt. Auch die Diskussion um die Rettung der angeschlagenen Hypo Real Estate ist immer auch als Debatte über das Grundgesetz geführt worden. Die Bundesregierung hat eine mögliche Enteignung der Aktionäre stets als „ultissima ratio“ (Karl-Theodor zu Guttenberg) bezeichnet - um sich nicht dem lächerlichen Vorwurf auszusetzen, sie strebe eine Art Staatskapitalismus od
oder gar Schlimmeres an.Mehr zum Thema:Unliebsame Konkurrenz. Die Wirtschaft hat sei jeher Widerstand gegen staatliche Betriebe geleistetDie Lex HRE ging vielen schon zu weit. Dem Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts Thomas Straubhaar etwa, der darin ein „Regieren per Notrecht“ sah und einen „rechtspolitischen Sündenfall erster Güte“. Rainer Brüderle von der FDP lästerte gar, demnächst werde wohl der kubanische Staatschef auf dem CDU-Parteitag ein Grußwort halten. Die Linkspartei wiederum hatte angesichts der Warnungen vor einem großkoalitionären „Sozialismus“ ihre Mühe, den Unterschied zwischen Vergesellschaftung und der Steinbrückschen Variante einer Reparaturverstaatlichung kenntlich zu machen. Der Hinweis, dass hier keineswegs das System untergraben, sondern vielmehr Möglichkeiten jener Verfassung zur Geltung gebracht werden, die in der Vergangenheit ja gerade als Bollwerk dieses Systems galt, ging dabei in der Regel unter.Hessische VarianteDas Thema hat in Hessen eine landespolitische Variante gefunden: Die schwarz-gelbe Koalition versucht dort, was Roland Kochs Alleinregierung 2004 noch nicht gelang – unter anderem den Artikel 41 der Landesverfassung über Bord zu werfen. Darin hatten 1946 SPD, CDU und KPD die „Sofortsozialisierung von Kohle und Stahl, Erzen und Kali, Energie und Eisenbahnen“ verankert, 72 Prozent der Wähler stimmten dem in einer Volksabstimmung zu. In Zeiten, in denen Verstaatlichung, demokratische Kontrolle der Produktion und anderes nicht mehr sofort und überall als linke Spinnerei abgetan werden, soll offenbar getilgt werden, was in der Gründungszeit der Bundesrepublik aus historischer Erfahrung Eingang in die hessische Verfassung fand.Die Liberalen waren freilich schon damals dagegen, heute spricht der FDP-Justizminister in Wiesbaden von einer „unausgegorenen, vorkonstitutionellen Idee zur Wirtschaftspolitik“ und ärgert sich darüber, dass ausgerechnet „die Postkommunisten“ sich darauf berufen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei Jörg-Uwe Hahn und anderen Sirenen auch Sorge im Spiel ist, die gegenwärtige Krise könne einen anderen Ausgang nehmen, als die Wiederherstellung des Kapitalismus in den vorigen Stand. Dafür spricht auch das Maß der Erregtheit, welche sogar einfachste Grundkenntnisse aus dem Sozialkundeunterricht vernebelt.„Jeder weiß, dass das Blödsinn ist“, sagt Hahn mit Blick auf den hessischen Sozialisierungsartikel, und dass dessen Umsetzung „mit Blick auf das Grundgesetz auch gar nicht geht“. Die örtliche Linkspartei wunderte sich daraufhin zu Recht, dass der zuständige Landesminister offenbar „einen zentralen Artikel des Grundgesetzes nicht kennt“ – schließlich heißt es dort in Artikel 15, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel ... zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“. Die dafür notwendige Enteignung regelt Artikel 14 unter der Bedingung, dass dies „zum Wohle der Allgemeinheit“ geschieht und gegen Entschädigung vonstatten geht.Linke VerfassungsfreundeWenn sich nun ausgerechnet die Linkspartei auf die Möglichkeiten des Grundgesetzes beruft, mag dies manche verwundern. Das hat zum einen mit dem gebetsmühlenartigen Vorwurf zu tun haben, diese Partei stehe nicht auf dem Boden der Verfassung. Zum anderen ist in linken Kreisen ja tatsächlich die Überlegung verbreitet, Veränderungen innerhalb des Systems würden lediglich auf Kosmetik hinauslaufen. „Die einzige Alternative ist Revolution“, lautet ein beliebter Flugblatt-Spruch – und wer glaubt schon, dass dabei hierzulande das Grundgesetz bestehen bleiben würde?Aber zurück zur Linkspartei, die zwar eine Menge Flügel hat, aber keinen revolutionären. Mit dem Grundgesetz habe man „weniger Schwierigkeiten“ als viele meinen, sagt die stellvertretende Vorsitzende Halina Wawzyniak. Anfang März stieg auch die Linkspartei in den Jubiläumszug ein, der 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes durch das erinnerungspolitisch geprägte Wahljahr rumpelt. Im Neuen Rathaus Leipzig diskutierte man über verfassungspolitische Traditionen, über die Zukunft demokratischer und sozialer Rechte.Wie gering zumindest bei einem Teil der Partei die „Schwierigkeiten“ mit dem Grundgesetz sind, konnte man am Plakat erahnen, das auf die Konferenz aufmerksam machte: das Signet der Linken auf schwarz-rot-goldenem Hintergrund. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass so etwas vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen wäre. Sind das Boten eines „neuen linksrepublikanischen Projekts“, von dem vor einigen Wochen bei einer anderen Linken-Konferenz die Rede war?Ein Text, von der Realität ignoriertEs geht der Partei zunächst einmal um die Möglichkeiten des Grundgesetzes und deren „Weiterentwicklung“. Vom Enteignungsartikel etwa werde „zu wenig Gebrauch gemacht“, und auch sonst könne man „nicht den Text verantwortlich machen, wenn ihn die Realität ignoriert“, sagt Wawzyniak. Das Grundgesetz biete schon jetzt „eher die Möglichkeit den demokratischen Sozialismus einzuführen“ als alle DDR-Verfassungen. Vor ein paar Tagen hat die Bundestagsfraktion zudem einen Änderungsentwurf vorgelegt, mit dem das Sozialstaatsprinzip konkretisiert werden soll. Dieses ist zwar durch das Attribut „sozial“ in Form eines Bekenntnisses enthalten. Der bisherige Text aber vermag nach Ansicht des rechtspolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion, Wolfgang Neskovic, nicht den „Schwankungen im gesetzgeberischen Umgang mit der Verfassung die nötigen Grenzen zu setzen“.Die Linkspartei schlägt nun unter anderem die Einfügung des Diskriminierungsmerkmales „soziale Stellung“ und die Formulierung einer ausdrücklichen Pflicht des Staates zur Absicherung von Lebensrisiken vor. Was in der aktuellen Krisendiskussion wohl für noch mehr Aufsehen sorgen wird, ist die angestrebte Erweiterung von Artikels 15, der auch die Vergesellschaftung von Banken und Versicherungsunternehmen erlauben soll und, was noch weitgehender ist, eine Art Sozialisierungspflicht enthalten soll: für „Einrichtungen und Unternehmen, die für die Allgemeinheit wichtige öffentliche Dienste erbringen oder die Nutzung von Energiequellen oder Wasser betreffen“. Gewissermaßen spiegelbildlich dazu fordert die Partei ein Verbot der Privatisierung staatlicher Kernaufgaben und von Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge.Eine Utopie und die MehrheitsverhältnisseIdeen aus dem Wolkenkuckucksheim? Eine Verfassungsregelung allein macht natürlich noch längst keinen gesellschaftspolitischen Sommer. Auch steht im Gesetzentwurf der Linken kein Wort darüber, was genau unter "Gemeineigentum" oder "andere Formen der Gemeinwirtschaft" zu verstehen ist. Wie darf man sich das vorstellen? Und, ja doch, Staatsbetriebe haben nicht gerade beste Erinnerungen hinterlassen. Andererseits: Wer will noch ernsthaft die Vorteile renditeorientierter Privatwirtschaften preisen? Wer den „schlanken Staat“ propagieren, wer die „Selbstheilungskräfte des Marktes“?Gregor Gysi jedenfalls hält eine Verfassungsdiskussion für „sehr zeitgemäß“. Über die Durchsetzungschancen ihrer Vorschläge macht sich die Linke deshalb keine Illusionen. „Eine Utopie verwirklicht sich nicht bereits, weil wir sie denken können“, sagt Wolfgang Neskovic. Man kenne schließlich die aktuellen Mehrheitsverhältnisse. Er hat gerade eine Anhörung im Bundestag organisiert, in der es um noch weiter gehende Vorschläge für eine Änderung des Grundgesetzes ging: Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Recht auf Wohnung. Keine Tagesforderungen, gewiss. Aber, sagt der frühere Bundesrichter, wenn man eine Utopie nicht einmal denken kann, könne sie nie zur Wirklichkeit reifen; nicht von einem Kopf in den anderen springen; nicht zur Forderung werden, die sich herumspricht.
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