„Das ist eine sehr schlimme Sache“, sagt Andrea Nahles über die neuen Regelsätze für Hartz-Empfänger. Und SPD-Vize Manuela Schwesig spricht von einem „Kuhhandel zu Lasten der sozial Schwachen“. Wenn die Sozialdemokraten dieser Tage ihre Kritik an der Neuberechnung der Grundsicherung kommunizieren, lassen sie Gesichter sprechen, denen das Offenkundige nicht so sehr anhaftet: Hartz IV, das ist eine sozialdemokratische Erfindung. Und über allem schwebt die Frage, wie jemand, der einen Regelsatz von 345 Euro (im Osten 331 Euro) eingeführt hat, sich nun über die 364 Euro empören kann. Natürlich wird man auch der SPD zugestehen, dass sie aus Fehlern lernt – aber hat sie das denn?
Union und FDP haben in den vergangenen Tagen immer wieder die Vergangenheit bemüht: „Die rot-grüne Kritik ist verlogen“, meinte etwa CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, „denn die jetzigen Hartz IV-Regelsätze sind das Resultat einer rot-grünen Entscheidung und solange Sozialdemokraten regierten, haben sie diese Sätze regelmäßig als auskömmlich und ausreichend verteidigt, noch im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.“ Arbeitsministerin Ursula von der Leyen erklärte, Schwarz-Gelb würde den „Pfusch“ von Rot-Grün korrigieren. Und so richtig der Hinweis von SPD-Fraktionsvize Elke Ferner ist, dass die Union seinerzeit im Vermittlungsausschuss der inzwischen als verfassungswidrig geltenden Berechnung zugestimmt hat – die Sozialdemokraten werden den Hartz-Makel so leicht nicht los. „Wir alle haben vom Verfassungsgericht eine Klatsche bekommen“, sagt Ferner. Aber es gibt mehrere Gründe, warum die Wange der SPD besonders brennt.
Das Thema Hartz IV wird die nächste große bundespolitische Baustelle sein, auf der Sozialdemokraten keine großen Türme bauen werden können. Schon von der atompolitischen Konfrontation profitieren vor allem die Grünen. Insgeheim können die Sozialdemokraten sogar froh sein, dass Schwarz-Gelb die Regelsätze nicht deutlich erhöht – die selbst ernannte Oppositionsführung mit Hartz-Biografie hätte ziemlich alt ausgesehen. Nun der Kanzlerin soziale Kälte vorzuwerfen, mag gerade noch angehen. Das strategische Dilemma löst sich aber nicht von selbst: Wenn die SPD im Bundesrat blockiert, könnte es bei den fünf Euro bleiben. Wie erklärt man das dem Wähler?
Ausdruck der Unentschiedenheit
Das Problem der Sozialdemokraten ist freilich viel größer. Die SPD kann eine sozialpolitische Wende nicht glaubwürdig zu vermitteln. „Wir kritisierten nicht das Prinzip von Hartz IV“, sagt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck. Nur habe man eben zweifel, ob „alles mit rechten Dingen zugegangen ist“. Das Argument ist vor allem Ausdruck einer Unentschiedenheit. Nach wie vor ist offen, wie sich die Partei zu Hartz IV positionieren will. Die Befragung der Genossen vor Ort hatte gezeigt, wie schwer diese rot-grüne Erblast an der Basis wiegt und wie sehr sie den elektoralen Niedergang der SPD beschleunigt hat. Bei der „Neuausrichtung“ seit vergangenen Herbst spielten die Regelsätze keine besondere Rolle. Es rächt sich nun, dass die Sozialdemokraten in der Frage der Grundsicherung keinen konzeptionellen Neuanfang vorangetrieben haben. Es gab Ansätze wie Nahles‘ Arbeitsversicherung, doch die gingen weder weit genug noch redet heute noch niemand davon. Der Sonderparteitag am letzten Wochenende hat – völlig richtig – die Frage des Mindestlohns in den Vordergrund gestellt, zur Höhe der Grundsicherung aber lediglich beschlossen, die Sätze müssten steigen. Nur: Um wie viel?
Eine klassische sozialdemokratische Forderung würde doch zumindest den Inflationsausgleich in den Blick nehmen. Die Kaufkraft der Regelsätze hat seit 2005 erheblich eingebüßt, die „Erhöhung“ durch Ursula von der Leyen erweist sich so gerechnet sogar eine drastische Kürzung. Noch auf dem Sonderparteitag im Herbst 2009 war unter anderem ein Antrag an Bundestagsfraktion und SPD-Vorstand überwiesen worden, der für eine Anhebung „entsprechend der Forderung der Wohlfahrtsverbände“ eintrat. Das wären mindestens 400 Euro. Genaue Zahlen scheut die SPD-Spitze derzeit aber wie der Teufel das Weihwasser. Dass Generalsekretärin Nahles einmal unlängst davon sprach, dass nach „unseren Berechnungen“ der Regelsatz „über 400 Euro liegen“ müsse, war eine Ausnahme – vielleicht auch ein Ausrutscher. Schwesig erklärte es sogar zur Tugend, dass sich die SPD „nie auf einen Satz festgelegt“ habe. Man müsse nun erst selbst „Cent für Cent“ nachrechnen, sagt der amtierende Fraktionschef Joachim Poß. Wegen der „rechten Dinge“.
Das eigentliche Dilemma
In der Zwischenzeit gerät die SPD von zwei Seiten unter Druck. Die schwarz-gelbe Koalition meint, das Verhalten der Sozialdemokraten sei auch ein Test für deren Regierungsfähigkeit. Und die Linke sagt, die Glaubwürdigkeit der SPD messe sich nun daran, „ob es zu einem gemeinsamen Vorgehen der Oppositionsparteien gegen die Hartz-IV-Pläne kommt“. Die nun unter anderem von Poß ausgesandten Signale über eine möglichen Einigung im Bundesrat deuten an, für welche Seite sich die SPD-Spitze entscheiden könnte. Auf dem Sonderparteitag am Wochenende in Berlin hat auf Wunsch Gabriels eben jener Peer Steinbrück eine Rede gehalten, der bei der Vorstellung seines Buches gerade noch beklagte, die SPD habe „in den letzten zwei Monaten im Wesentlichen Rentner und Transferempfänger angesprochen“. Man hört die Signale.
Parlamentsgeschäftsführer Thomas Oppermann hat jetzt erklärt, wenn die Bundesregierung den Sozialdemokraten „beim Thema Mindestlöhne und beim Ausbau von Angeboten für Kinder“ entgegenkomme, „dann sind wir kompromissbereit“. Doch: Wenn die Kritik richtig ist, dass es bei der Bemessung der Regelsätze keine politischen Setzungen geben dürfe, keine „Mauschelei“, wo soll dann der Spielraum für einen solchen Kompromiss liegen?
Das ist das eigentliche Dilemma der aktuellen Hartz-Debatte. Das häufigste Argument der Kritiker von Schwarz-Gelb, nach dem es eine Art objektive Herleitung geben könne, die von allen Zweifeln befreite Rechnung, erweist sich nicht nur als falsch, sondern geradezu als Knebel für die eigentlich notwendige Diskussion: Wie viel eine Gesellschaft ihren Armen und Chancenlosen zugesteht, ist vor allem eine Frage der gesellschaftlichen Anschauungen, eine der politischen Auseinandersetzung. Und natürlich auch eine der „Kassenlage“, die ja kein natürlicher Zustand ist, sondern Ergebnis gesellschaftlicher Konflikte und der Bereitschaft dazu, sich ihnen mit langem Atem zu stellen. Wer sich hinter irgendwelchen Datenproblemen und Berechnungstricks versteckt, geht dem aus dem Weg. Die SPD wird ihre Gründe haben.
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