Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler sind das, was man schrumpfende Großhistoriker nennen könnte – immer noch wortmächtige Exponenten eines Faches, dessen Bedeutung für gesellschaftspolitische Diskurse und feuilletonistische Selbstvergewisserung heute allerdings nur noch ein Schatten früherer Jahre ist. Vielleicht liegt es daran, dass die überragenden Themen der deutschen Historiografie entweder auserzählt erscheinen (Nationalsozialismus) oder sich Apparate der Geschichtspolitik ihrer bemächtigt haben (DDR). Einen Resonanzboden, auf dem das Reden über die Krise, die Möglichkeit einer ökosozialen Zukunft und dergleichen schwingen könnte, haben die hiesigen Historiker derzeit jedenfalls nicht im Angebot.
Was nicht heißt, dass die Zunft nichts zu bereden hätte. Eine späte Rezension Wehlers, der Alys jüngstem Buch über die mentalitätsgeschichtlichen Pfade, die zum Holocaust führten, attestierte, ein „Flop“ zu sein, hat jetzt den Dauerstreit der beiden innig verfeindeten Männer neu entfacht. Es ist ein Zwist, in dem es nicht nur um Fragen der Methode geht, um die richtigen Erklärungen und falschen Schlüsse. Der seit Jahren immer einmal wieder neu geführte Schlagabtausch gründet mehr noch auf einem Generationenkonflikt, auch auf politischer Haltung. Und dabei, was für das Publikum nicht unwichtig ist, geht es stets direkt zu, polemisch, verletzend, justiziabel – kurzum: unterhaltsam.
Aly versucht in Warum die Deutschen? Warum die Juden? (siehe auch hier) die Radikalisierung des deutschen Antisemitismus' mit einem Neid an den gut integrierten, schnell aufsteigenden und sozial wie wirtschaftlich erfolgreichen Juden zu erklären, von dem eine ängstliche, risikoscheue und freiheitsfeindliche Mehrheitsbevölkerung zerfressen war. Wehler wirft ihm vor, jegliche vergleichende Perspektive etwa mit dem Antisemitismus im Frankreich der Dreyfus-Affäre ausgelassen zu haben und die soziale Mobilität im historischen Deutschland ebenso zu unterschätzen wie „die von Hitler inspirierte und durchgesetzte Vernichtungspolitik“, ohne die es einen Holocaust Wehler zufolge nicht gegeben hätte. Alys wissenschaftliches Mantra zielt in die entgegengesetzte Richtung: Ohne eine zur Mittäterschaft an der Vernichtung bereite Mehrheit in Deutschland, ohne all die kleinen Profiteure, wäre Auschwitz nicht geschehen.
Kalter Kaffee, Faktennebel
Man könnte das als interessante wissenschaftliche Kontroverse lesen – wenn es denn in erster Linie eine solche wäre. Dass aber die Verbissenheit, mit der Wehler und Aly sich seit Jahren gegenseitig historiografisches Scheitern nachsagen, rein fachliche Gründe hat, wird niemand glauben. In ihren Streit sind alle möglichen gesellschaftlichen Kontroversen eingeschrieben: Wehler, der die Nazivergangeheit seines Lehrers Theodor Schieder als „moderate Form“ eines „Honoratioren-Antisemitismus“ herunterhängt, nachdem Aly diesen als eifrigen Nazi outete. Aly, der gegen Wehler juristisch vorging, weil der ihm unterstellte, seine Vergangenheit als „Edelmarxist“ ebenso zu verdrängen wie den angeblichen Versuch, den Politologen Alexander Schwan dereinst drohend aus dem Fenster im vierten Stock eines FU-Gebäudes gehalten zu haben. Wehler über Alys Volksstaat: "Kalter Kaffee", "engstirniger Materialismus". Aly über Wehlers vierten Band der Gesellschaftsgeschichte: "Faktennebel", "gescheitert".
Und so geht es auch diesmal weiter. Wehler hat in der Frankfurter Allgemeinen vorgebracht, Aly befinde sich auf einem „neuen Irrweg“. Der so Kritisierte schlägt nun im selben Blatt zurück, Wehler bewege sich „in der Sackgasse“. Das „zentrale Problem“ sieht der nicht mehr ganz so junge in der ahistorischen Zielsetzung des Altmeisters („fleischgewordener Antiliberalismus“): Wehlers Credo sei, Geschichtswissenschaft habe „nach demjenigen Sinn zu fragen, den historische Aktionen unter theoretischen Gesichtspunkten von heute annehmen“. (Hier verweist Aly auf Bernhard Schlink, der im Sommer einen Essay über "Die Kultur des Denunziatorischen" im Merkur veröffentlicht und darin auch, allerdings eher am Rande, auf Wehler zu sprechen kommt.) Weil aber der Holocaust „unter theoretischen Gesichtspunkten von heute“ alles nur eben keinen „Sinn“ annehmen könne, scheitere Wehler dabei, den Mord an den europäischen Juden historisch zu integrieren. Was Wehler letzten Endes sagen wolle, so Aly: „Weder mein Vorbild Schieder noch meine Verwandten, noch das deutsche Volk haben die Grundlagen mitgeschaffen, die Auschwitz ermöglichten! Wer diese Einbildung pflegt, der braucht sich um die Entstehung des modernen deutschen Antisemitismus nicht zu kümmern, der will es bei Pseudoerklärungen belassen und erträgt es nicht, wenn jemand wie ich feststellt: Doch“.
Man darf auf Wehlers Antwort gespannt sein.
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