Die Politisierung einer Generation

Essay Für die Generation X wurde die Hoffnung von 1989 zur Illusion, die mit Trump endgültig zerplatzte. Die Generation Y aber musste erst einmal politisch werden
Occupy-Proteste, 2014
Occupy-Proteste, 2014

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Die Wege der Erkenntnis sind bisweilen sonderbar. Man kann Jahre und Jahrzehnte in Verhältnissen verbringen und deren wahre Bedeutung erst Jahre oder Jahrzehnte später realisieren. Womöglich ist diese Form der Erkenntnis aber vor allem die paradigmatische des Historikers. Der Historiker Per Leo hat diese Nachträglichkeit der (historischen) Erkenntnis kurz vor dem 30-jährigen Mauerfalljubiläum im vergangenen Jahr sehr eindringlich beschrieben. In dem Merkur-Essay „Der Nate-Silver-Schock“ schildert Leo seine Beobachtungen aus zwei USA-Aufenthalten, in Alaska, während eines Schüleraustauschs in den Jahren 1989/90 sowie zum zwanzigjährigen Jubiläum seines Highschool-Abschlusses im Jahr 2010. Diese zwanzig Jahre sind durchzogen von historischen Epochenbrüchen, die zunächst im Zusammenbruch des Ostblocks die Historie überhaupt zu beenden schienen, nur um sie dann zwölf Jahre später im Zusammensturz zweier Wahrzeichen der westlichen Welt umso krachender und traumatischer wieder hereinbrechen zu lassen.

Im Grunde handelt es sich dabei jedoch um ein und denselben langen Epochenbruch, dessen Zeichen im Jahr 2010 zwar längst zu erkennen sind, deren wahre Bedeutung dem Beobachter allerdings erst sechs Jahre später mit der Wahl Donald Trumps als Nachfolger Barack Obamas im Amt des US-Präsidenten schockartig bewusst wird. Ließen sich die Wahl und Wiederwahl Obamas 2008 und 2012 mit gesundem Optimismus noch als Hinweise auf Heilung einer seit 2001 zutiefst verwundeten Nation verstehen, wurde im Laufe des Wahlkampfs 2016 eine tiefe Spaltung des Landes sichtbar, die sich im Sieg Trumps, sämtliche Resthoffnungsblasen zerplatzend, endgültig zementierte. Als die für den Historiker erschütterndste und, wie gesagt, zugleich naturgemäßeste Erkenntnis zeigte sich, dass die Geschichte für ihn im Vorhinein nicht „lesbar“ gewesen war. Die Geschichte der Geschichte wird somit nur erzählbar als die einer „Illusion“.

Abgesehen von meinem generell starken Identifikationsvermögen mit dieser Erfahrung hatte Per Leos Text, ausgehend von einem Alaska-Austausch vor dreißig Jahren, für mich noch eine besondere Bedeutung. Denn ich selbst nahm elf Jahre später (fast) genau denselben Weg, und zwar nicht nur von derselben Stadt, München, sondern – wie ich Wikipedia entnehmen konnte – sogar von ein und demselben Schulgebäude im Stadtteil Schwabing aus. Hier beginnen aber auch schon die kleinen Differenzen, denn wie die Welt im Jahr 1989 war auch dieses prachtvolle Gebäude seit seinem Bau vor mehr als einhundert Jahren geteilt: in das ehemalige „Realgymnasium“, heute neusprachliche Oskar-von-Miller-Gymnasium, an dem Per Leo Schüler war, und in das von mir besuchte humanistische Maximiliansgymnasium, beide auch bekannt alsOskar“ und „Max“, die einander seit jeher in liebender Feindschaft verbunden sind. Von München aus flogen Per Leo und ich zwar beide über Chicago nach Alaska, genauer in die mit 300.000 Einwohnern größte Stadt Anchorage, dort angekommen fuhr ich aber noch etwa zwei Stunden weiter Richtung Süden in das beschauliche 3000-Seelen-Städtchen Seward an der Küste der Kenai-Halbinsel.

Noch gravierender als diese sozio-geographischen Unterschiede dürfte allerdings die Tatsache gewesen sein, dass sich das globale sozio-politische Gefüge zwischen 1989 und 2000 grundlegend gewandelt hatte. Per Leo war als Ende der Achtzigerjahre fast Erwachsener noch Teil einer im Schatten der deutschen Teilung zwar scheinbar ganz natürlich politisierten Generation, deren „politischer Existenzialismus“ in seinem metaphysischen Überschuss allerdings schon deutliche Anzeichen eines nahenden Umschlagens zu zeigen schien. Politisierung im Endstadium, könnte man vielleicht sagen. Umso erstaunter war der junge Mann in den USA von der dortigen politischen Hemdsärmeligkeit, die das ‚Politische‘ nicht als existentielle Zuschreibung eines ‚Politischseins‘ benötigte, um gleichwohl im tagtäglichen Stellungbeziehen zu konkreten politischen Fragen allgegenwärtig zu sein.

Postpolitische Partystimmung

Berlin, 1989

Foto: Gerard Malie/AFP/Getty Images

Ich dagegen gehöre, erst im gerade gesamtdeutschen Herbst 1990 eingeschult, schon zu jener hier noch zwischen X und Y schwebenden Übergangsgeneration ins vermeintliche Ende der Geschichte, deren ernsthafte institutionelle Sozialisation genau in der postpolitischen Partystimmung der Neunzigerjahre begann. Das Metaphysische löste sich nun von der Politik ab und fing, wo es sich nicht ganz auflöste, an, ein existentialistisches Eigenleben zu führen. Während die entideologisierte Politik begann, sich in Technokratie aufzulösen, war die entpolitisierte Metaphysik der notwendige Antipode zum stumpfen Thunderdome-Techno, den eine damals der völligen Selbstgefälligkeit verfallende Musikindustrie zu unserer absolut apolitischen musikalischen Früherziehung bereitstellte. Die Philosophie war uns kein Analysemittel mehr, um damit noch politischer zu sein, sondern sie war ein Analgetikum, um den allgemeinen hedonistischen Stumpfsinn besser zu ertragen. Obwohl wir also, wie die politischen Existentialisten vor uns, weiterhin mit Begeisterung Dostojewski lasen, war zu Schulzeiten im Grunde keiner von uns ernsthaft politisch gewesen.

So habe ich auch die USA, nach zwei Amtszeiten Bill Clintons, zwischen Dotcom-Krise und Bush-Junior-Wahl, als nicht sehr politisch erlebt. Die weltanschaulichen Konflikte waren auch hier schon großenteils gewissermaßen spiritualisiert, von der Politik auf die Ebene nicht so sehr der Philosophie, sondern vor allem der Religion verschoben. Politik war zwar nicht geradewegs irrelevant, aber doch keinesfalls allgegenwärtig. Natürlich gab es auch einige agnostische Alt-(und Neu-)Hippies, aber die waren das eher im kulturellen als im politischen Sinn. Und so zeigte sich vermutlich in dieser hier noch entpolitisierten Religiosität und allenfalls spiritualisierten Kulturalität schon ein Übergangsstadium nicht nur zum politisch-religiösen Fundamentalismus der Bush-Jahre, sondern auch zum (re)politisierten Tribalismus, den Per Leo dann zehn Jahre später beobachtet hat, – und zu den Kulturkämpfen von heute.

Im Geschichtsunterricht jedenfalls wurde uns der Amerikanische Bürgerkrieg so erklärt, dass die Feindschaft der Confederation der Südstaaten gegen das federal government der Nordstaaten schon daran abzulesen war, dass die Vorsilbe „Con-ja bedeute, „gegen“ etwas, in diesem Fall die nördliche federal union, zu sein. Das kollektive Bewusstsein dafür, dass Politik zumeist komplizierter ist als eine fehlerhaft gebaute Eselsbrücke, ging in den USA zwar erst im gemeinschaftlichen „either with us, or against us“ (das so wörtlich und zuerst übrigens nicht Bush, sondern Hillary Clinton gesagt hatte) nach 9/11 vollständig verloren. Doch dass die Beschwörung eines „Wir“ oftmals ein Nicht- oder Gegen-Wir impliziert, wird in dieser scheinbar harmlosen Verwechslung von con und contra bereits sinnfällig. Hier hätte – sowohl in politischer als auch in linguistischer Hinsicht – ein Studium der Geschichte des Faschismus helfen können, lautet der Satz doch in Benito Mussolinis Sprache: „O con noi o contro di noi“. Das Fach hieß hier nur leider nicht „Geschichte“, sondern „Amerikanische Geschichte“. Aber noch weiter schließen lässt sich dieser Kreis letztlich im überlieferungsgeschichtlichen Ursprung jener binären Freund-Feind-Logik: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, sagt knapp 2000 Jahre vor der politischen Theologie Carl Schmitts laut Markus und Lukas schon Jesus im Neuen Testament. Es mag auch der Provinzialität der Seward Highschool geschuldet gewesen sein, dass es dort weder vernünftigen Geschichts-, noch überhaupt Politikunterricht und schon gar keine politischen Podiumsdiskussionen gab, wie sie Per Leo in Anchorage erlebt hat. Aber ich vermute, es hätte wenn auch eher eine Bibelgruppe gegeben, womöglich begleitet von gefühlvoller Gitarrenmusik. Die Bibelgruppe gab es allerdings bei uns zu Hause. Und die Musik steuerte ich bei.

9/11 als Einstieg in die Geschichte

Meine Gasteltern gehörten zu den wohlhabenderen Familien der Stadt. Jim war kommerzieller Fischer, verbrachte die Hälfte des Jahres auf seinem Boot, während seine zweite Frau Rhonda, studierte Betriebswirtin, von zu Hause aus den Verkauf und Export des Fangguts, vor allem nach Japan, managte. Er war ein eher ruhiges Gemüt, sie aber hatte großes Sendungsbewusstsein, nicht zuletzt in religiös-weltanschaulichen Belangen. Äußerst aktive Mitglieder der örtlichen Lutheraner-Gemeinde, beherbergten Jim und Rhonda nicht nur deren Pastor in der Souterrain-Einliegerwohnung ihres Hauses, sondern lud Rhonda zudem wöchentlich zahlreiche Jugendliche zum besinnlichen „Sunday Soul Search“ zu uns nach Hause ein. Dort wurden Geschichten aus der Bibel gelesen und in überwiegend moralisierender Weise über allgemeine ethische Fragen gesprochen. Und obwohl ich selbst in keiner Weise religiös erzogen worden und für Rhondas moralistischen Rigorismus alles andere als zugänglich war, hatte ich doch zumindest eine gewisse „religiöse Musikalität“ und jedenfalls ein etwas größeres Interesse an diesen Fragen als etwa meine beiden 15 und 18 Jahre alten Gastbrüder, die nicht nur in dieser Hinsicht der gängigen Vorstellung von generell eher renitenten Teenagern entsprachen.

Die einzige ansatzweise politische Phase meines Jahrs in Alaska waren die Präsidentschaftswahlen 2000, die George W. Bush mit einem der knappsten Wahlsiege der US-Geschichte erst nach einem äußerst aufgeheizten Nachwahlprozedere so endgültig wie umstritten für sich entscheiden sollte. In Alaska, das, seit es 1959 offiziell ein Staat der USA geworden war, nur ein einziges Mal einen Demokraten zum Präsidenten gewählt hatte (und zwar auch nur, als 1964 Lyndon B. Johnson landesweit den höchsten Wahlsieg seit 1820 verbuchen konnte), gewann Bush mit 30 Prozent Vorsprung vor Al Gore. Bei meinen Gasteltern und unter den meisten Lehrern und Mitschülern – sofern sie sich überhaupt zum Thema äußerten – galt Gore, als er in Florida die Stimmen nachzählen ließ, mit seiner Klimaschutzagenda als „baumumarmender“ Spielverderber und schlechter Verlierer. Dass aber auf der anderen Seite des politischen Spektrums umgekehrt Bushs Sieg als Wahlbetrug und eine Art Staatsstreich angesehen wurde, erfuhr ich erst, als ich wieder zurück in Deutschland war. Da stand die größte katastrophale Zäsur der jüngeren US-Geschichte schon unmittelbar bevor.

Markierte der 11. September 2001 in makrohistorischer Perspektive den traumatischen Anfang eines langen Auswegs aus dem Ende der Geschichte, bedeutete das für meine Generation überhaupt erst den – unfreiwilligen – Einstieg in die Geschichte: als Auseinandersetzung mit der Welt als einem auch politischen Gefüge. Kein politisches Ereignis zuvor, das so ausgiebig, oder auch nur überhaupt in der Schule diskutiert worden wäre. Und der folgende „Krieg gegen den Terror“ in Gestalt der Taliban, Osama bin Ladens und später Saddam Husseins warf seine langen Schatten auch auf die scheinbar noch heile Schwabinger-Bürgerkinderwelt. Gegen den Irak-Krieg schwänzten wir zum ersten Mal sogar die Schule für eine politische Demonstration. (Wir kamen allerdings noch nicht auf die brillante Idee, das als Streik zu bezeichnen.) Auf einer Klassenfahrt wurden Mahlzeiten für die Verkündung der neuesten Nachrichten unterbrochen. Und hatte auf solchen Fahrten gemeinsames Musizieren bisher in erster Linie dem Ausdruck eines allgemeinen Lebensgefühls gedient, wurde nun explizit „für den Frieden“ gesungen.

Dass wir uns hier freilich nur auf einer Art allgemeinem deutschen Sonderweg befanden, den die Schröder-Regierung allerdings mehr aus wahltaktischen Gründen beschritt als aus einem ihr eigenen Pazifismus (dessen Glaubwürdigkeit sie bekanntlich schon Jahre zuvor konterkariert hatte), war uns damals noch nicht klar gewesen. Genauso wie uns auch die gesamte Problematik von Schröders Agenda-Politik – marktliberale Reformen einer sozialdemokratisch-grünen Regierung – und damit auch nur ein rudimentäres Verständnis dafür, was so etwas wie die Hegemonie des Neoliberalismus eigentlich sein könnte, im Grunde erst 2008 überhaupt zu Bewusstsein kam. Noch waren wir – oder zumindest ich – aus dem eigentlichen Dornröschenschlaf der Geschichte nicht ganz aufgewacht. Womöglich bezeichnend dafür – wie auch für die augenscheinliche Art und Weise der weltpolitischen Konfliktlagen der frühen 2000er und für ihre folgende Entwicklung – ist die Tatsache, dass ich 2004 in Berlin nicht etwa anfing, Politik zu studieren, sondern neben Philosophie und Literatur vor allem Religionswissenschaft. Erst nach meinem Abschluss 2013 erwog ich zunächst, zu einem ökonomischen Thema zu promovieren, um Jahre später dann schließlich doch eine Dissertation in Politikwissenschaft anzumelden.

Obama als ultimatives Gesicht

Barack Obama, 2008

Foto: Emmanuel Denand/AFP/Getty Images

Das Scharnier dieser Geschichte bildet in mehrfacher Hinsicht nämlichvor allem das Jahr 2008, obwohl ich selbst auch das erst später begriff. Im Zusammenbruch von Lehman Brothers kollabierte kurzzeitig – zumindest scheinbar – auch die neoliberale Geld- und Weltordnung, nur um wenige Wochen später in Gestalt Barack Obamas in progressiver Form wiederaufzuerstehen. Die Philosophin Nancy Fraser prägte den Begriff eines „progressiven Neoliberalismus“, um zu beschreiben, wie die heutige Anerkennung und Förderung benachteiligter Gruppen, etwa von Frauen, people of color oder LGBTQ*, lediglich deren Integration in die neoliberale Marktordnung beschleunigt, anstatt dass sie auch von Maßnahmen allgemeinen sozialen Ausgleichs flankiert wäre. Kurz: Identitäts- statt Klassenpolitik – der Anfang vom Aufstieg Donald Trumps. Entscheidend ist dabei allerdings für Fraser weniger die Frage, ob Obama nun nach 2008 die Finanzmärkte etwas besser eingehegt hat oder nicht, ob er eine keynesianischere Politik betrieben hat als George W. Bush oder eine etwas weniger neoliberale als Bill Clinton. Entscheidend ist, dass er die seit Clinton (und in Europa den „neuen“ Sozialdemokraten um Blair und Schröder) bestehende Allianz von Finanzmarktkapitalismus und progressiver Identitätspolitik nicht grundlegend infrage gestellt, sondern ihr letztlich nur ein neues – und vielleicht erst das ultimative – Gesicht gegeben hat.

Im Herbst 2008 war ich gerade für ein ERASMUS-Jahr nach Perugia, Italien, gekommen, in ein Land mit enormer Staatsverschuldung, das in der (hoffentlich endgültig) letzten Amtszeit Silvio Berlusconis von der Großen Rezession infolge der Finanzkrise mit am schwersten getroffen wurde. Obamas Präsidentschaftskampagne profitierte dagegen von der Krise, da man ihm eher Lösungen zutraute als seinem Gegner McCain, dem anfänglich noch ausgerechnet eine erzkonservative Gouverneurin aus Alaska zu einem unerwarteten Popularitätssprung verholfen hatte. Von alldem kriegte ich allerdings erst einmal wieder nicht so viel mit. Am Tag der US-Wahl fand abends in meiner internationalen Studenten-WG eine Party statt, ein ganzes Zimmer war für die Fernseh-Übertragung der Wahlberichterstattung reserviert. Ich hielt mich allerdings kaum darin auf. Wie viele Deutsche vor mir wandelte ich in Italien vor allem auf den Spuren Goethes und mit ihm auf denen der Vergangenheit.

Daran änderte auch die drollige Fußnotenichts, dass ausgerechnet mein Jahr in Italien mit einer Rückkehr in die USA endete, allerdings nicht an die last frontier Alaska, sondern in die Gegend der ersten englischen Siedlungen in der Neuen Welt, nach Williamsburg in Virginia. Ich hätte den Sommer auch lieber in Italien am Strand verbracht, doch meine damalige Freundin arbeitete drei Monate lang in einem Fast-Food-Frühstückslokal im Historic Triangle. Einen dieser Monate verbrachte ich mit ihr in einem bis auf ein Bett vom Sperrmüll vollkommen leeren Condo, inmitten eines riesigen Parkplatzes, umgeben von subtropischem Sumpfland und brackigen Flussufern. Doch anstatt in dieser schwülen neuen Welt über die beginnende Fluchtwelle aus den am härtesten getroffenen europäischen Krisenländern nachzudenken – meine Freundin etwa stammte aus Rumänien, ging von den USA aus mit mir nach Deutschland und lebt heute in Barcelona – lag ich die meiste Zeit im Condo auf dem Boden am Fenster, las Wilhelm Meisters Wanderjahre und versuchte (erfolglos), meine Italienische Reise zu schreiben.

Keine Politisierung ohne Polarisierung

Dass aber mit der Welt tatsächlich etwas Grundlegendes nicht stimmte, realisierte ich endgültig erst dann, als die Folgen der Finanzkrise in Europa so anhaltend waren, dass sich in Berlin sogar ein Professor für Wissenschaftsphilosophie (der sich aber immerhin auch mit Goethes Farbenlehre beschäftigte) dazu bemüßigt fühlte, an der Humboldt-Universität eine Vorlesung zur Eurokrise halten. Geradewegs auf dem ersten Scheitelpunkt der europäischen Schuldenkrise im Sommer 2012 – kurz bevor sich Staatsverschuldung und Bonität der europäischen Staaten (vorerst) wieder stabilisierten, nicht zuletzt weil Deutschland allmählich seine Blockadehaltung gegenüber Griechenland aufgegeben hatte – hinterfragte Olaf Müller mit uns zentrale Begriffe und Deutungen der Krise, und wir verfolgten jede Woche atemlos die neuesten Ereignisse zwischen Brüssel und Athen, Rom, Madrid, Lissabon und Berlin. Inzwischen sind an den Berliner Unis Lehrveranstaltungen mit aktuellem politischen Bezug auch in der Philosophie verbreitet, damals aber war es etwas Besonderes und in seiner polit-thrillerhaften Tagesaktualität geradezu einzigartig. Nie zuvor hatte ich an der Uni das Gefühl gehabt, etwas so Relevantes zu diskutieren (und ich habe lange studiert). Es war das Jahr nach dem Arabischen Frühling, den Protesten der Indignados in Spanien und nach Occupy Wallstreet. In einer der ersten Semesterwochen nahmen zum Jahrestag der spanischen „Bewegung 15. Mai“ 20.000 Menschen aus ganz Europa an einer Blockupy-Demonstration in Frankfurt am Main teil. In Spanien waren insgesamt Hunderttausende auf der Straße gewesen.

Aus Anlass der größten Finanz- und Wirtschaftskrise nach dem zweiten Weltkrieg hatte im Westen eine systematisch entpolitisierte Generation ihren kollektiven Olaf-Müller-Moment erlebt und war auf einmal wieder politisch geworden. Nach dem jähen Ende des Posthistoire suchte sie nun endlich auch einen Ausweg aus der Postdemokratie und stattdessen nach Wegen in den Postkapitalismus. Aus der Ferne war jetzt wieder Bill Clintons postpolitisches Mantra „It‘s the economy, stupid!“ zu hören, aber diesmal traf es auf die Antwort: „But the economy is political, idiot!“ Das postdemokratische Zeitalter mit seinem Primat der Ökonomie vor der Politik, in dem erst die Durchsetzung der neoliberalen Ideologie durch ihre einstigen politischen Feinde die von Margaret Thatcher zuvor nur proklamierte Alternativlosigkeit, das Hegemonialwerden des Neoliberalismus, besiegelt hatte, ging nun zuende. Zumindest theoretisch. Praktisch wurde jedoch mit enormem finanziellen Aufwand der Status quo weiter aufrecht erhalten – bzw. wieder hergestellt. In den USA pumpte die Obama-Regierung 600 Milliarden Dollar in die Restabilisierung des Bankensektors, anstatt mit dem Geld etwa den 4,3 Millionen amerikanischen Familien, die infolge der Krise ihre Häuser verloren, die Kredite zu stunden, die Krise also „von unten“ zu beheben (worauf etwa der Historiker Philipp Ther hingewiesen hat). Und in Europa ließ man lieber die „faulen“ Griechen, Spanier und Italiener bluten, anstatt die deutsche schwarze Null zu gefährden.

All das sind aber auch schon Gründe und Zeichen dafür, dass sich in den Jahren nach der Finanzkrise bekanntlich nicht nur die Linke politisierte. 2013 entstand die AfD aus dem Unmut über die Tatsache, dass man, anstatt Griechenland aus dem Euro zu werfen, ihm immerhin ein bisschen geholfen hatte. Der Kulturwissenschaftler Georg Simmerl hat im Merkur darauf hingewiesen, dass die inzwischen offen rechtsextreme und rassistische Ausrichtung der AfD keineswegs eine dem anfangs dominierenden „nur“ nationalökonomischen Strang der Partei entgegengesetzte ist, sondern beide aufs Engste miteinander verbunden sind. Und auch wenn in den politischen Auseinandersetzungen seitdem nach seiner Darstellung nicht „Liberale gegen Populisten“, sondern letztlich „Liberale gegen Liberale“ kämpfen, ist es wohl eine der frappierendsten Beobachtungen der vergangenen Jahre, dass eine an sich doch so begrüßenswerte (Re-)Politisierung anscheinend dennoch nicht ohne eine scheinbar fortschreitende Polarisierung zu haben war – und weiterhin ist. Das Perfide an dieser Polarisierung aber, die in ihrem Zunehmen zugleich das rechte Narrativ einer unaufhebbaren Spaltung der Gesellschaft zu beglaubigen scheint und damit den rechten Wunsch nach einem (nicht nur geistigen) Bürgerkrieg Wirklichkeit werden zu lassen droht, ist, dass sie die ursprüngliche Politisierung zugleich wieder überdehnt und unterminiert: Denn Krieg ist eben keine Politik mehr.

Trügerische Konsensstimmung

Angela Merkel, 2014

Foto: Jochen Zick/Pool/Getty Images

Doch damals war die Heftigkeit dieser Zersetzung noch nicht wirklich abzusehen gewesen. Allenfalls schien sie wenigstens vermeidbar zu sein. Im Sommer 2014 gründete ich mit ehemaligen KommilitonInnen den Verein „Kommunikative Demokratie“ in Reaktion auf die damals noch vergleichsweise moderate Krisenstimmung der Demokratie, die wir als Krise der politischen Kultur verstanden. In der trügerischen allgemeinen Konsensstimmung der Ära Merkel und besonders der gerade in ihre zweite Runde gegangenen großen Koalition war die kommunikative Kompetenz der Politik zur Vermittlung stark konträrer Positionen, und damit auch zum echten Kompromiss, erheblich beeinträchtigt und drohte im Laufe der Eurokrise „im Sog der Technokratie“ (Habermas) vollends zu verschwinden. Berechtigte Kritik und Unzufriedenheit mit dem politischen Status quo wurde so weitestgehend unbeholfen und allzu leicht in ein ‚Wutbürgertum‘ gedrängt, das der Journalist Dirk Kurbjuweit sowohl bei pöbelnden Sarrazin-Anhängern als auch bei protestierenden Stuttgart-21-Gegnern diagnostiziert hatte (schon damals ein Vorschein der heutigen „Hygiene“-Allianz?).

Doch während der Frust der letzteren immerhin in einen öffentlichen Schlichtungsprozess kanalisiert wurde, der meinen Vereinsmitgründer Andreas Schiel zu seinem Konzept von kommunikativer Demokratie inspirierte, erfuhren die Migrationskritiker eine weitaus weniger wutdämpfende Resonanz. So gehen seit der landesweiten Volksabstimmung in Baden-Württemberg 2011 die Stuttgarter Montagsdemonstrationen bis heute friedlich weiter – der „Wutbürger“ hat hier eher dem „Mutbürger“ Platz gemacht –, zur 250. Ausgabe im Dezember 2014 kamen noch einmal 7000 Menschen zusammen. Zu dem Zeitpunkt wurde das Label „Montagsdemo“ allerdings gerade wieder vom Osten re-importiert. Kurz nach unserem Verein gründeten sich in Dresden die „patriotischen Europäer etc.“ von Pegida und brachten seitdem die Wutbürgerschaft auf eine neue Ebene. Das blieb bekanntlich auch für die AfD nicht ohne Folgen.

Mit dem Aufstieg und der Radikalisierung der AfD wuchs dann zwar in den anderen politischen Lagern in gleichem Maße immer auch die Frage mit, „wie das denn eigentlich hatte geschehen können“ und immer noch weiter geschehen konnte. Doch im Versuch einer Antwort entzweiten sich vor allem erst einmal die nicht-rechten Lager selbst und untereinander in bedenklichem Ausmaß. Hatte man den Rechten nun von Anfang an in selbstzerstörerischer Sensationslust des medialen Zirkus in den Berichten und Talkrunden, den Debatten und Podien zu sehr eine Bühne geboten? Oder hatte man sie umgekehrt von Anfang an zu sehr ausgegrenzt, weil man mit all dem aus den Untiefen der gesamtgesellschaftlichen Verdrängung hochgequollenen blau-braunen Gefühlsgewühle einfach nichts, aber auch gar nichts zu tun haben wollte? Oder hatte man gar, im bitteren Einander-Bekämpfen der beiden Seiten des „Umgangs“, letztlich beides getan: mit Rechten geredet, sie aber dabei nicht – oder zu sehr – ernstgenommen, sie zugleich eingeladen und ausgegrenzt, sie mit Sensationslust und gleichzeitigem Abwehrreflex bedacht, also nicht differenziert für das zu Verstehende Verständnis gezeigt und das Abzulehnende abgelehnt, das emotional Gegebene anerkannt und das faktisch Falsche sachlich ruhig widerlegt? Also nicht sie ins Scheinwerferlicht geholt, um ihnen angemessen zu begegnen und Paroli zu bieten, sondern letztlich ihnen eine „Bühne“ nur insofern „geboten“, als es eine war, auf der sie ganz und gar ihr eigenes Stück aufführen, ihre eigenen Strategien verwirklichen konnten.

Politischer Super-GAU

Per Leo hat gemeinsam mit seinen Co-Autoren des Buchs Mit Rechten reden in besonderem Maße diese Strategien in den Blick genommen: wie man ihnen begegnen und sie möglichst ins Leere laufen lassen könnte, anstatt wie der Großteil der politisch-medialen Öffentlichkeit immer und immer wieder in dieselben strategischen Fallen zu tappen. Das Konzept der kommunikativen Demokratie setzt dagegen am anderen Pol der Interaktion an, mit Habermas gesprochen nicht am strategischen, sondern eben am kommunikativen Handeln. Es sucht eine tatsächliche Verständigung von konfligierenden Positionen zu erreichen, anstatt einen Kampf um Deutungshoheit zu gewinnen. Aber beides ist nötig, wenn auch tendenziell mit je anderen Gegenübern.

Mit einem Mangel an beidem jedoch, mit der weitgehenden Unfähigkeit (und Unwilligkeit), das Drehbuch und Strategiepapier der Rechten wie auch den Frust und Hass vieler ihrer Wähler „zu lesen“, raste der Westen auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zu. Mit diesem politischen Super-GAU aber erreichte auch die westliche Polit-Polarisierungslage eine neue, zunehmend ambivalentere Dimension. Konnte man zum einen den Eindruck gewinnen, dass in der Nacht von „11/9“ 2016 die gesamte westliche Welt von einem Tag auf den anderen endgültig zum politischen Aktivismus erweckt wurde, verschärfte dies zum anderen auch die gesellschaftlichen Spaltungen, die in den USA schon im Laufe des Wahlkampfs schier unerträglich geworden waren. Und dass Trump dann in seiner Siegesrede ankündigte, er wolle das Land nun wieder einen und der Präsident „aller Amerikaner“ sein, war nur die erste von inzwischen (Stand 27.08.2020) 22.247 Lügen, die er im Lauf seiner Präsidentschaft seitdem verbreiten sollte.

Aus der Ferne muss (und kann) man all das – Politisierung wie Polarisierung – vor allem auch in den sozialen Medien verfolgen. Bezeichnend für mein ansonsten vorwiegend Alaska-zentriertes US-Netzwerk ist freilich, dass die liberale, in diesem Fall auch dezidiert linke Fraktion vor allem von einem ehemaligen Mitschüler aus München besetzt wird. Der war zwar damals nicht für ein Austauschjahr, dafür aber direkt nach dem Abitur dauerhaft in die USA gegangen, allerdings in die Küstenmetropolen Boston und Los Angeles, und führte nun auf Facebook leidenschaftlich (Vor-)Wahlkampf für Bernie Sanders – bevor er sich widerwillig auf die vermeintliche politische Notlösung Hillary Clinton resignieren musste. (Inzwischen hat er sich von Facebook abgemeldet.)

Rückkehr zur Tristesse

Seward, Alaska, 2007

Foto: Imago/Design pics

Einer meiner Gastbrüder aus Alaska dagegen, der zu Schulzeiten eindeutig zu den progressiveren Mitschülern zu zählen gewesen war und nach dem Abschluss im liberalen Seattle Film studiert hatte, pflügte dann 2016 plötzlich auf dem tollwütigen Trump Train durch das (a)soziale Netzwerk. Heute lebt er wieder in Seward, jobbt im örtlichen Fitnessstudio, als Fahrer für den Uber-Abklatsch „lyft“ und versucht, mit einer esoterisch angehauchten Ernährungsberatung Fuß zu fassen. Durchaus keine untypische Karriere in der alaskanischen Provinz. Sich mit mehreren unsteten Jobs auch nur gerade so über Wasser halten zu können, gehört dort zum Alltag. Den großen kreativen Durchbruch, oder auch nur ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, schafft heute kaum einer mehr. Im Gegensatz zu all den Ärzten, Anwälten, Architekten und inzwischen auch schon Professoren unter meinen ehemaligen Münchner Schulkamerad:innen. Während auch der Münchner US-Auswanderer – trotz Elite-College – seinen Traum von der Musikproduzentenkarriere aufgeben musste (was freilich vor allem an der Branchenwahl liegen mochte).

Nun ist München-Schwabing zwar wirklich auch ein Dorf, aber sicher eines der privilegiertesten in Deutschland und von der alaskanischen und überhaupt der amerikanischen Provinz gesellschaftlich ebenso weit weg wie geographisch. Und doch ist wohl auch die deutsche Provinz von amerikanischen Verhältnissen zum Glück noch ein Stück weit entfernt – oder eine Zeit lang: Einigen Beobachtern zufolge sind es ganze 20 Jahre, die uns die USA (aber auch Großbrexitannien) an gesellschaftlicher „Abwicklung“ (George Packer) und Aufwiegelung „voraushaben“. Demnach wäre Deutschland also heute in einer ähnlichen Situation wie genau die USA, in denen ich damals ein knappes Jahr zugebracht habe: als das Land gerade dabei war, nach einer Dekade progressivem Neoliberalismus in die Hände neokonservativer Hardliner zu fallen, deren monomanischer „Krieg gegen den Terror“ schon damals ein Kreuzzug gegen eine imaginierte Islamisierung des Abendlands war, der freilich erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass einige nun auch in Europa vor einer solchen Angst haben zu müssen meinen.

Nun sind wir zum Glück noch nicht einmal so weit. Wir sind tatsächlich (noch) in der verhältnismäßig glücklichen Lage, ein im Vergleich zu den USA und vielen europäischen Nachbarn wesentlich geringeres Problem mit Rechtspopulismus und radikalem Nationalismus zu haben – und deshalb theoretisch aus den Fehlern der anderen lernen zu können. Anders als in vielen anderen Ländern stehen die Autoritären in Deutschland zumindest im Bund eben noch nicht kurz vor der Machtergreifung – oder haben diese gar schon hinter sich. Dieses relative Glück darf uns freilich weder dazu verleiten, jetzt die Hände in den Schoß zu legen und der AfD weiter beim Aufstieg zuzusehen – noch dazu, durch unklug platzierten Straßenkampf-Aktivismus letztlich dasselbe zu tun. Sondern unsere noch vergleichsweise glückliche Lage sollte uns doch dabei helfen können, etwas Ruhe zu bewahren und nicht auf jede gezielte Provokation von Rechten anzuspringen und dadurch die von ihnen zunächst nur behauptete gesellschaftliche Polarisierung und Spaltung überhaupt erst zu erzeugen.

Zwei Formen von Polarisierung

Aber vielleicht ist Polarisierung per se auch gar nicht so sehr das Problem, sondern vielmehr nur eine bestimmte Form von ihr. Der Politikwissenschaftler Timo Lochocki argumentiert in seinem Buch Die Vertrauensformel, dass die jahrelange großkoalitionäre Einigkeit in wirtschaftspolitischen Fragen überhaupt erst das Debattenvakuum hat entstehen lassen, das Thilo Sarrazin dann mit seinen identitätspolitischen Thesen füllen konnte. Identitätspolitische Polarisierung aber sei offensichtlich viel gefährlicher für eine Gesellschaft als eine in wirtschaftspolitischen Fragen, denn die Identität betrifft das, was Menschen in ihrem Innersten ausmacht (und nicht „nur“ die äußeren Verhältnisse ihres Daseins), worüber sich daher nur sehr bedingt auf rein sachlicher Ebene streiten lässt, ohne sich auch im Innersten aufs Äußerste zu entzweien. Wenn in jeder politischen Diskussion die Gesprächspartner mit der Gesamtheit ihrer Person infrage stehen und nicht mehr nur in erster Linie ihre Ansichten und Argumente, werden das in der Tat wesentlich verletzendere Auseinandersetzungen sein, als sie es im politischen Raum sein sollten oder müssten. Das Infragestehen der Identität ist etwas, das – wenn überhaupt – wohl besser dem privaten Raum vorbehalten bleiben sollte. Anderenfalls haben wir es mit einer Privatisierung der Politk zu tun, und nicht zuletzt sie trägt mit zu Verhältnissen bei, die Per Leo als „öffentliches Leben mit einem Hauch von Bürgerkrieg“ beschreibt.

Seit Leos Merkur-Text vom vergangenen Jahr hat sich die gesellschaftliche Konfliktlage bekanntlich drastisch verändert. Die Dimension aber hat sich womöglich noch einmal verschärft, und noch immer gelingt es den Rechten auf beunruhigende Weise, das Konfliktpotenzial für ihre Zwecke nutzbar zu machen, sei es in der Wut über zu wenig staatliche Souveränität im Umgang mit der globalen Migration oder über zu viel von ihr in der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Daher ist es nach wie vor lohnenswert, an die zwei Weisen zu erinnern, mit denen Per Leo illustriert, wie schlecht, weil schlicht, und also bestenfalls nicht mit Rechten (oder den von ihnen Vereinnahmten) umzugehen wäre: nämlich entweder sie „zu kopieren“ oder sie „zu bekämpfen, als wären sie eine Manifestation des Bösen“. (Vor allem letzteres war ja auch in Reaktion auf die Corona-Demonstrationen bisweilen zu beobachten.)

Wie aber ist mit ihnen umzugehen? Auch ich möchte hier zwei Beispiele nennen: Die Alternative zu Schlichtheit lautet Differenzierung, z.B. zwischen Personen und ihren Ansichten und Aussagen. Man stelle sich zum Beispiel jemanden vor, der es nicht aushalten will, mit einem Politiker, dessen Ansichten er ablehnt, im selben Raum zu sein. Verallgemeinerte man ein solches Verhalten, könnte es einen öffentlichen Raum im Grunde nicht mehr geben, denn irgendjemand wird sich in ihm immer finden lassen, dessen Ansichten man auch beim besten Willen nicht teilen möchte. Aber soll man deswegen auch einen öffentlichen Raum nicht teilen können? Soll man wirklich Menschen, deren Meinung man nicht akzeptieren möche, auch nicht in einer geteilten Öffentlichkeit tolerieren können? Oder verbirgt sich hinter dieser scheinbar zivilcouragierten Haltung nicht letztlich doch das Verlangen, einen öffentlichen Raum zu einem quasi privaten zu machen, sprich einem, in dem man sich tatsächlich und zurecht von Menschen absondern kann, die man weder zu akzeptieren noch zu tolerieren bereit ist. Denn in der Öffentlichkeit könnte man immer nur wieder von dem einen in einen anderen öffentlichen Raum vor ihnen flüchten, ohne ihnen jemals entkommen zu können. Es ist also die Differenzierung von Toleranz und Akzeptanz (man könnte auch sagen: von Faktizität und Geltung), die den öffentlichen – und damit den politischen – Raum erst konstituiert.

Das Klima wurde zum bestimmenden Thema

Mein zweites Beispiel nun fügt Per Leos zwei schlechten Reaktionen auf die Rechten (aber auch etwa auf Corona-Leugner) zunächst noch eine weitere hinzu: sie ignorieren. Denn sie zu ignorieren, erlaubt zum einen den Rechten, sich als Opfer (in diesem Fall von Marginalisierung und Ausgrenzung) zu stilisieren, und beraubt zum anderen die Nichtrechten der Möglichkeit, die Positionen der Rechten sachlich zu widerlegen. Die schlimmste Form des Ignorierens ist aber die, die Rechten selbst zu ignorieren, nicht aber ihre Inhalte. Das heißt, über ihre Themen und Thesen zu reden, aber nicht mit ihnen. Denn das gibt ihnen zusätzlich zur Opferrolle zugleich noch die Bestätigung ihrer (angeblichen) Relevanz. Viel besser wäre es dagegen, nicht sie selbst zu ignorieren, aber ihre Themen (oder zumindest ihr Framing). Also gerne auch (aber nicht nur) mit ihnen zu reden, nur eben über etwas anderes als über Migration, Überfremdung oder ein eher egoistisches Freiheitsverständnis: zum Beispiel über konkrete Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie auch Lochocki vorschlägt. Oder weniger darüber, ob die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr jetzt eine inakzeptablere Grundrechtseinschränkung darstellt als die Freiheit der Maskenmuffel, die Gesundheit ihrer Mitbürger:innen zu gefährden, sondern eher darüber, wie die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie möglichst gerecht geschultert werden können.

Auch wenn das inzwischen Jahrhunderte her zu sein scheint, erinnere man sich für die Möglichkeit einer solchen Diskursverschiebung doch noch einmal etwa an die von Kevin Kühnert initiierte „Sozialismus“-Debatte im vorletzten Frühjahr. Abgesehen von der Tatsache, dass das Gros der Einlassungen in den erwartbaren Entsetzensbekundungen bestand, wurden doch für ein paar Wochen endlich auch einmal wieder (zumindest teilweise) sinnvolle politische Grundsatzdebatten geführt – und die AfD war weitgehend aus den Diskussionen verschwunden. Kurz darauf fand der erste weltweite Klimastreik im Rahmen der Fridays-for-Future-Bewegung statt, in der inzwischen lautstark auch die nächste Generation auf den politischen Plan getreten war. Im Mai dann richtete der Youtuber Rezo sein eine neue Dimension des Bürgerjounalismus begründendes, hypervirales Video zum Klimathema nicht etwa gegen die AfD als „Klimawandelleugner“, sondern gegen eine Partei, die sämtliche wichtigen Abkommen zum Kampf gegen die Erderwärmung mit unterzeichnet, dann aber diesbezüglich so gut wie nichts unternommen hatte.

Das Klima wurde in Deutschland zum bestimmenden Thema der EU-Wahlen (und weit darüber hinaus), die Grünen legten massiv zu, die AfD verlor im Vergleich zur letzten Bundestagswahl fast zwei Prozentpunkte. Sie bzw. ihre Themen und Thesen hatten die Vorherrschaft in der Aufmerksamkeitsökonomie verloren und stattdessen schien es, als ließen sich Wahlen auch mit progressiver Politik wieder auf der Straße gewinnen. Das konkrete Gesetzespaket, in das die allgemeine Klimabewegtheit dann schließlich mündete, zeigte freilich vor allem eins: Eine große Koalition, die sich selbst bei einem Thema mit einem so beispiellosen Rückhalt in der Bevölkerung nicht traut, wenigstens ein bisschen mutig zu sein, braucht wohl tatsächlich niemand mehr. Ob es allerdings mit Schwarz-Grün wirklich besser würde, darf man ebenfalls bezweifeln: mit einem dann eben etwas grüneren Wachstumskapitalismus, der die gesellschaftlichen Machtverhältnisse unangetastet lassen dürfte.

Träume von Grün-Rot-Rot

Darum re es auch schön, sich einmal wieder an den „Schulzzug“ von 2017 erinnern zu können, mit Zielbahnhof „Soziale Gerechtigkeit“ (auch wenn dieser sich dann letztlich als leerstehendes Geisterhaus erweisen sollte): das letzte Mal, dass die AfD in Umfragen bei unter 10 Prozent lag (das ist inzwischen dank Corona immerhin wieder der Fall) – und die SPD bei über 30 (dies hingegen wirkt so fern wie je)! Zumindest für die SPD sind diese Zeiten womöglich nun endgültig vorbei. Der Journalist Ijoma Mangold vermutet übrigens in seinem Buch Der innere Stammtisch, dass das mitnichten daran liege, dass die Partei irgendetwas falsch gemacht hätte. Im Gegenteil, sie hat in ihrer 150-jährigen Geschichte bis in die jüngste Zeit hinein anscheinend so vieles richtig gemacht, dass sie gewissermaßen „zu identisch mit uns selbst“ geworden ist, „sodass zwischen ihr und uns die normative Spannung feht, die uns an sie binden könnte“. Ein Teil dieser Spannung ließe sich womöglich mit dem sozial-ökologischen Reformprogramm eines „Green New Deal“ wieder herstellen, den in Deutschland unter den Bundestagsparteien bisher nur Grüne und Linke gefordert haben.

Tatsächlich stand Rot-Rot-Grün – oder genauer: Grün-Rot-Rot – noch bis Anfang des Jahres knapp vor einer absoluten Mehrheit, seit im vorhergehenden Sommer die Grünen zum ersten Mal kurzzeitig die CDU als stärkste Partei überholt hatten. Doch dann kam Corona. Die Umfrageergebnisse der Union schossen in die Höhe, immerhin auch die der roten Regierungspartei stabilisierten sich, die der Grünen gingen zurück, die Opposition war abgemeldet. Krisenmodus unter einer starken Regierung eben. Zwischenzeitlich schien es, dass die Panik der Rezession wieder gute alte Konjunkturpolitik um jeden Preis zur Folge haben würde, sogar über eine Kaufprämie für Verbrennungsmotoren wurde ernsthaft diskutiert, anstatt das Herunterfahren der Wirtschaft zum Anlass zu nehmen, endlich einmal ganz neu über Wirtschaft und Wachstum nachzudenken.

Und doch: Mit weiterhin starken Grünen und einer entweder glaubwürdig links neu ausgerichteten (inzwischen eher unwahrscheinlich) oder zumindest mit einem beliebten Kanzlerkandidaten Olaf Scholz stabilen SPD – sowie einer nicht völlig in der Versenkung verschwundenen Linkspartei – könnte es bei der nächsten Bundestagswahl noch immer für Grün-Rot-Rot reichen. Klar, besonders wahrscheinlich ist das momentan nicht, da zeichnet sich eher Schwarz-Grün unter einem Kanzler Söder ab. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen. Denn während eine solche grün-rot-rote Regierung mit einem „Green New Deal“ den Sozialstaat radikal renovieren könnte, dürfte die Union als größte Oppositionspartei vor der AfD dieser gegenüber endlich auch ihr konservatives Profil wieder schärfen. Und die Demokratie könnte von ihrem – wie Per Leo ihn vor seinem abschließenden Traum“ davon nennt – ‚lebendigsten Zustand‘, dem der „Krise“, wieder in ihren zweitlebendigsten übergehen, den der ‚Stabilisierung im Dissens‘, einer gerne heftigen, aber „demokratischen Polarisierung“ (Habermas) in Sach-, sowie einer Kommunikations- und Kompromissbereitschaft in Identitätsfragen.

Desaströse Lage

Donald Trump, 2019

Foto: Joe Raedle/Getty Images

In den USA dagegen ist die kurze Hoffnung auf einen demokratisch-grünen „Sozialismus“ unter einer Präsidentschaft Sanders oder Warren inzwischen wieder Vergangenheit. Wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie zog Bernie Sanders sich als letzter Kandidat neben Joe Biden aus dem Vorwahlkampf der Demokraten zurück. Biden immerhin führt in den Umfragen inwischen um vieles deutlicher vor Trump, als es Hillary Clinton 2016 tat. Aber das ist doch vielleicht das eigentliche Drama der Präsidentschaft Trumps. Die Lage ist so desaströs, dass selbst das progressiv-neoliberale Weiter-so unter Biden wie ein erstrebenswerter Traumzustand wirkt. Das war 2016 noch anders, als der Donald-Trump-Schock, der für Per Leo „eigentlich ein Nate-Silver-Schock gewesen war“, ebenso auch in einem Hillary-Clinton-Debakel bestand. „Um Gottes willen bloß nicht wieder nur weiter so“, müssen sich eben nicht nur die 44,9 von Nate Silver auf seiner Statistik-Website FiveThirtyEight für Donald Trumps Wahlergebnis prognostizierten Prozent damals gedacht haben, sondern vor allem auch die 1,7 Prozent, deren Wahlverhalten exakt vorauszuberechnen Silver nicht gelungen war – und die am Ende den alles entscheidenden Unterschied machten. Für einen neuen „Nate-Silver-Schock“, der diesmal nicht das Verhalten der Trump-, sondern etwa der Sanders-Wähler falsch vorhersagte, scheint die Zeit also noch nicht reif zu sein – hoffentlich auch nicht in negativer Form von Sanders-zu-Trump-Überläufern. Mit einem neuen "schlechten Verlierer" würden wir es im Falle einer Niederlage Trumps ja wohl leider trotzdem zu tun bekommen.

Eigentlich wäre es mein Traum gewesen (den freilich spätestens Covid-19 zunichte gemacht hätte), in diesem Jahr das 20. Jubiläum meines Highschool-Jahrs und des Anfangs vom Ende des Endes der Geschichte zu nutzen und ebenfalls nach Alaska zurückzukehren: diesen archaisch-archimedischen Punkt der Weltpolitik, der bereits zu meiner Zeit dort den wärmsten Winter seit Jahrzehnten erlebte, und dessen Bewohner dennoch Al Gores heute einigermaßen visionär wirkende Klimaschutzagenda leidenschaftlich ablehnten. Bushs folgender Kreuzzug aber, der mindestens ebensosehr wie gegen den Terror auch für Öl geführt wurde, hat nicht nur aufmerksamkeitsökonomisch dem fortgesetzten Raubbau an der Welt und ihren Ressourcen den Rücken freigehalten, worauf der Islamwissenschaftler Stefan Weidner hingewiesen hat. Auch hier müssen wir uns aus dem „langen Schatten von 9/11“ befreien – was inzwischen ja dank einer Generation, die diese Zäsur zum Teil schon nicht mehr erlebt hat, glücklicherweise begonnen hat.

Stattdessen im Schatten schwindender Gletscher hätte ich in Alaska dann mit meinen ehemaligen Freunden, Bekannten und Verwandten, die sich seit Jahren mit Facebook-Wetterberichten über die jeweils neuesten Hitze-Rekorde überbieten, endlich einmal (kontrovers) über Politik und Klimawandel (und Corona) diskutieren können. Denn Trump gewählt haben sie in Alaska trotzdem. Sie sollten es nicht wieder tun (müssen). Wie passend würde das gewesen sein, an dieser ‚letzten Grenze‘ der westlichen Welt nun das Ende des Anfangs des Endes und stattdessen den schon so lange überfälligen Anfang von etwas wirklich Neuem zu willkommnen und an ihm mitzuwirken: einer neuen politischen Generation und einem neuen demokratischen Zeitalter der Politik. Das wäre ein Traum. Hoffentlich dann in vier Jahren.

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Geschrieben von

Tom Wohlfarth

Politische Theorie und Kultur

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