Der Mann mit der immerfeuchten Unterlippe

Kehrseite III Als ich in München in den Zug Richtung Mailand steige, steht ein Mann bereits im Abteil. Offensichtlich ist er Musiker. Er sucht im Zugabteil nach ...

Als ich in München in den Zug Richtung Mailand steige, steht ein Mann bereits im Abteil. Offensichtlich ist er Musiker. Er sucht im Zugabteil nach einem Platz für seine Gitarre, den er findet. Er setzt sich, grüßt breit und freundlich und benetzt dabei seine Unterlippe.

Eigentlich, denkt er, war er immer Individualist und findet sich heute in genau der Lage wieder, die den Mann Mitte vierzig beschäftigt. Da war die Sache mit der Potenz, da waren die gehäuften Termine bei seinem Anwalt, das Sorgerecht für seinen Sohn, die Abstandszahlung für das gemeinsam erwirtschaftete Vermögen und der schleppende Fortschritt seiner Scheidung. Er schmunzelt und denkt, ich kenne das. Individualismus muss eine Projektion der Jugend sein.

Er schmunzelt und denkt an die Normalos, die sein Ilmenauer Bandkollege meint, wenn er vom Lehrerzimmer spricht, in dem die Damen und Herren des Lehrkörpers ihre vorgeschmierten Brote aus den Brotdosen nehmen und essen.

Im ruhigen Zugabteil zu Mittag im Januar spricht plötzlich der italienische Kellner im Zugrestaurant aus dem Lautsprecher. Der Mann merkt auf, seine immerfeuchte Unterlippe glänzt in der Wintersonne. Er denkt an Italien und denkt an seine Prostata.

Der Badeort an der Adria, den er elf Jahre lang zusammen mit seiner Frau besuchte, seit zwei Jahren aber nicht mehr, war vorwiegend von Deutschen und Österreichern besetzt, obwohl sich jeder von ihnen darüber mokierte. Das schönste war der erste Vormittag am Strand, das erste Mal die Fußbettfüße an der Sonne lüften und die Zehen in den hellen Sand stecken. In diesem Moment war der Vergleich des eigenen Lehreroberkörpers mit den anderen Arbeiter- und Angestelltenoberkörpern erträglich, weil so etwas wie echtes Wohlfühlgefühl das Idealmaß vergessen ließ. Auch, dass mit seiner Frau nichts mehr lief und dass er seit Monaten beim Wasserlassen diese seltsame Abflusssperre verspürte, die den Urin stoßweise, und jeden Stoß nur mit Konzentration, abfließen ließ.

Eigentlich bin ich Musiker, muss der Mann gedacht haben, als er seine Unterlippe über die Innenseite seiner Oberlippe strich und mit seinen Augen die Landschaft seiner Seele betrachtete und seine Mundwinkel immer tiefer zog. Im selben Augenblick aber schob der bayerische Zugführer die Abteiltür auf, sagte: Jo, nocha brauchadi no die Foaschein bitte, seine Hand in den Abteilraum streckte, dann sich dem Mann mit der feuchten Unterlippe zuwandte, der vor mir seinen Fahrschein parat hielt.

Ihre Stärke liegt nicht in der Musik, aber im Herzen, hatte der Hochschulrektor gesagt, als er dem Mann vor vielen Jahren das Diplom in Klassischer Gitarre überreichte. Eigentlich bin ich Individualist, mag der offensichtliche Musiker gedacht haben, stand auf, nachdem der Zugführer gegangen war, öffnete seinen Gitarrenkoffer, nahm ein Küchenmesser heraus und stieß es sich vor meinen Augen in sein Herz.


der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden