Nils Melzer: Bei Assange versagen im Westen Rechtsstaatlichkeit – und die Medien
Julian Assange Nils Melzers Job bei den Vereinten Nationen war es, auf Folter hinzuweisen. Das tat er im Fall Assange. Doch weder die Regierungen noch die Medien reagierten – bis heute
Julian Assange zeige typische Symptome weißer, also auf die Psyche zielender Folter, sagte der UN-Sonderberichterstatter für Folter nach einem Besuch des Whistleblowers im Gefängnis in London 2019. Fünfeinhalb Jahre lang arbeitete Nils Melzer heraus, wie Schweden, die USA und Großbritannien im Umgang mit Assange die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit beugten. Nun wechselte er als Direktor für Völkerrecht zum Internationalen Roten Kreuz. Seine Bilanz? Ernüchternd.
der Freitag: Herr Melzer, was konnten Sie im Fall Julian Assange bei den UN bewirken?
Nils Melzer: Meine Interventionen haben leider nicht viel bewirkt – obwohl ich mein volles Gewicht in die Waagschale geworfen habe. Nach anfänglichem Zögern entschied ich mich dazu, öffentl
ie Waagschale geworfen habe. Nach anfänglichem Zögern entschied ich mich dazu, öffentlich anzuprangern, wie Assange von den verantwortlichen Staaten dämonisiert und misshandelt wird. Ich habe das akribisch recherchiert und nachgewiesen. Seine Behandlung hat sich dadurch leider nicht verändert – aber die öffentliche Wahrnehmung dieses Falles wurde positiv beeinflusst. Und es kann gut sein, dass meine Schlussfolgerungen vom Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg beachtet werden, falls sein Fall dort landet.Und dennoch steht Assange vor der Auslieferung an die USA.Den Staaten ist es offenbar sehr wichtig, an Assange ein abschreckendes Exempel für andere Journalisten zu statuieren. Es geht ja nicht darum, dass er 2012 einmal ein paar britische Kautionsauflagen verletzt hat, weswegen er 2019 angeblich ins Gefängnis kam. Jeder weiß, dass das Unsinn ist. Die Regierungen wollen um jeden Preis verhindern, dass ihnen die Kontrolle über die Geheimhaltung ihrer Machenschaften entgleitet. Ohne drastische Abschreckung hätte Wikileaks heute im Internetzeitalter bald viele Nachahmer.Die Beschäftigung mit dem Fall hat Ihnen stark zugesetzt. Fühlten Sie sich auch persönlich gefährdet?Ich denke nicht, dass ich physisch in Gefahr war – auch wenn man das nie mit Sicherheit sagen kann. Aber die Regierungen demokratischer Staaten damit zu konfrontieren, dass sie Recht und Gesetz missachten, um ihre machtpolitischen Interessen durchzusetzen – das ist nicht karriereförderlich, wie man mir in Diplomatenkreisen klar zu verstehen gegeben hat. Ich bekam von den traditionellen Unterstützerstaaten meines Amtes keine Forschungsgelder mehr. Westliche Demokratien, die sonst Millionen für Folterprävention ausgeben, hatten plötzlich keine 5.000 Euro mehr für eine Studie.Wieso verlängerten Sie Ihr Mandat als UN-Sonderberichterstatter nicht?Politisch und diplomatisch war meine UN-Karriere wohl beendet, sobald ich mit meinen Vorwürfen zur Misshandlung Assanges an die Öffentlichkeit gegangen bin. Hätte ich mich nach dem Ende meiner Amtsdauer um einen höheren Posten bei den UN beworben, hätten die Briten und die Amerikaner im Selektionsverfahren wohl kaum zugestimmt.Sind Sie enttäuscht?Die hartnäckige Unwilligkeit westlicher Demokratien, im eigenen Garten für Ordnung zu sorgen, war die größte Enttäuschung meiner Amtszeit. Im Gegensatz zu Ländern wie Syrien, Iran und Saudi-Arabien haben wir in Westeuropa im Grunde einen Rechtsstaat, der in alltäglichen Fällen meist tadellos funktioniert. Aber wenn es einmal um politisch heikle Interessen geht, dann kann man sich auch bei uns nicht auf den Rechtsstaat verlassen. Zu Assange hieß es stets, der Fall werde ja bereits von der Justiz beurteilt, da könne sich die Regierung nicht einmischen, und schon gar nicht in einem anderen Land. Wenn ich aber ja gerade wegen schwerster Justizwillkür interveniere, dann ist das Argument rechtsstaatlicher Gewaltenteilung reine Augenwischerei.Wie verhalten sich die Regierungen denn, wenn Sie in anderen Fällen intervenieren?Von den über 1.000 Interventionen meiner Amtszeit als UN-Sonderberichterstatter wurden rund 90 Prozent nicht zufriedenstellend beantwortet. Bestenfalls bedanken sich die Staaten und drücken ihre Unterstützung für mein Mandat aus – im Endeffekt bleibt ihr Verhalten aber unverändert. Das ist auch so, wenn ich Polizeigewalt in den USA, den Niederlanden oder in Deutschland anprangere und um Stellungnahmen zu Einzelfällen bitte. Das Problem wird nicht ernsthaft angeschaut.Wie steht es in Deutschland um die Aufarbeitung von Polizeigewalt?Beim Gewalteinsatz macht auch die beste Polizei Fehler. Diese müssen straf- und disziplinarrechtlich sanktioniert und mit Schadenersatz wiedergutgemacht werden. Während aber die Demonstranten oft bereits 48 Stunden nach der Verhaftung abgeurteilt waren, ziehen sich die Verfahren gegen Polizeibeamte selbst bei eindeutigen Videobeweisen über viele Monate hin und werden schließlich in den allermeisten Fällen eingestellt. Eine rechtsstaatlich glaubwürdige Durchsetzung des Misshandlungsverbotes sieht anders aus.Placeholder infobox-1Ist Ihr Vertrauen in westliche Demokratien komplett zerstört?Nein. Aber die Selbstwahrnehmung der westlichen Demokratien ist nicht realistisch. Es ist ein bisschen wie bei einem Fußballteam: Die eigenen Spieler foulen nie, der Schiedsrichter ist ungerecht und es sind immer die anderen schuld. In Kriegszeiten tritt das Gut-Böse-Schema noch stärker hervor. Dass der Krieg den Assange-Fall in der öffentlichen Wahrnehmung überschattet, ist in einer solchen Krisensituation verständlich. Gerade die heutige Situation, in der es auf allen Seiten schwierig ist, Propaganda von Tatsachen zu unterscheiden, wäre aber auch eine Gelegenheit, die Bedeutung von Pressefreiheit und Transparenz in Erinnerung zu rufen.Wikileaks hat kurz vor der US-Präsidentschaftswahl von 2016 internen Mailverkehr von Hillary Clinton und den Demokraten veröffentlicht. Es hieß, die Daten kämen von russischen Hackern.Mein Eindruck ist, dass Assange alles veröffentlicht hat, was von öffentlichem Interesse war, ob es nun um die USA ging oder um Russland, Saudi-Arabien oder die Elfenbeinküste. Bezeichnenderweise wird Assange ja auch nicht wegen der Clinton-Leaks angeklagt – ein US-Gericht hat 2019 sogar ausdrücklich bestätigt, dass das von der Pressefreiheit gedeckt war. Natürlich spielen Geheimdienste beim Hacken von Informationen oft eine Rolle, auf allen Seiten.Russland soll Assange Asyl angeboten haben, er aber soll abgelehnt haben.Das habe ich auch gehört, ich bin dem aber nie nachgegangen, weil es für meine Untersuchung der Foltervorwürfe nicht relevant war. Man sollte jedoch bedenken, dass Assange – im Gegensatz zu Edward Snowden – nicht nur US-Geheimdokumente veröffentlicht hat, sondern auch solche aus Russland. Ich denke daher nicht, dass der Kreml ein aufrichtiges Interesse daran hatte, Wikileaks zu schützen. Wenn Russland Assange also tatsächlich Asyl angeboten hat, dann wohl eher aus politischem Kalkül.Sie wurden dafür kritisiert, dass Sie dem russischen Staatsfernsehen Interviews gegeben haben – einem Propagandasender. Warum haben Sie das gemacht?Einerseits war ich Sonderberichterstatter der Weltorganisation UN, und nicht des Westens. Ich kann mich bei meiner Arbeit daher nicht nur auf etablierte westliche Medien beschränken, sondern muss dafür offen sein, Medienplattformen aus aller Welt Interviews zu geben, auch wenn diese nicht immer über alle Zweifel erhaben sind. Andererseits gibt es auch bei westlichen Medien blinde Flecken, wo gesellschaftspolitisch wichtige Themen totgeschwiegen oder völlig selektiv und verzerrt dargestellt werden – dazu gehört auch der Fall Assange. Für Propaganda habe ich mich jedoch nie instrumentalisieren lassen, und zwar auf keiner Seite des politischen Grabens.Sie schreiben in Ihrem Buch über den Fall Assange von „Mainstreammedien“, ein Begriff, der von Rechtspopulisten gebraucht wird ...Für Rechtspopulismus habe ich überhaupt keine Sympathie. Aber meine Aufgabe als UN-Sonderberichterstatter ist, Staaten mit Hinweisen für Verletzungen des Folterverbotes zu konfrontieren und auch zu zeigen, wie die vorherrschende Medienberichterstattung in gewissen Fällen zu Missbräuchen beigetragen hat. Mich hat erstaunt, dass sich ein so etabliertes Medium wie die Süddeutsche Zeitung dafür hergibt, einen ganzseitigen Diffamierungsartikel gegen mich zu schreiben, weil ich einem russischen Sender Interviews gegeben habe und ein – wohlgemerkt authentisches – Foltervideo retweetet habe. Aufgrund von ausführlichen Hintergrundgesprächen wussten die Journalisten ganz genau, dass ich kein „Putin-Freund“, „Rechtsextremer“ oder „Querdenker“ bin. Trotzdem haben sie mich böswillig in diese Ecke gedrängt und mir danach sogar kurzerhand die Ausübung meines Gegendarstellungsrechts verweigert. Das war sowohl journalistisch unseriös als auch persönlich verletzend.Was hat Sie an der Berichterstattung in Westeuropa und den USA über den Assange-Fall gestört?Dass der öffentliche Fokus immer wieder auf Dingen lag, die letztlich Nebenschauplätze waren: etwa die Diffamierungen von Assange aufgrund seiner angeblich mangelnden Hygiene oder der Vorwurf des Narzissmus. Dass sein mehrfach diagnostiziertes Asperger-Syndrom seine Interaktion mit anderen Menschen beeinflusst und leicht zu Fehlinterpretationen führen kann, wurde bisher kaum thematisiert. Auch die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange wurden von den schwedischen Behörden in Wirklichkeit nie ernsthaft verfolgt, sondern aggressiv dazu missbraucht, um von seinen brisanten Veröffentlichungen abzulenken. Dass Schweden das Verfahren auf Druck der Briten in geradezu grotesker Weise verschleppte und erst nach fast zehn Jahren aus Beweismangel einstellte, wurde dann kaum noch wahrgenommen.Die Medien dürfen aber doch über Assanges Persönlichkeit und die Vergewaltigungsvorwürfe berichten?Natürlich. Aber die durch Wikileaks bewiesenen Verbrechen, wie etwa das berüchtigte Massaker „Collateral Murder“ bei den Luftangriffen in Bagdad 2007, verfolgten sie kaum – obwohl es sich dabei eindeutig um Mord und ein Kriegsverbrechen handelt. Wenn sich der Fokus der Medien auf Nebenschauplätze beschränkt und wegen der systematischen Straflosigkeit von Folterern und Kriegsverbrechern kein Druck auf die Regierungen gemacht wird, dann stimmt doch etwas nicht, dann versagen sie in ihrer Aufgabe als die „vierte Macht“ im Staat. Was bedeutet es, wenn Journalistinnen plötzlich Angst haben müssen, Beweise für staatliche Verbrechen zu veröffentlichen?Werden Sie vom Fall Assange loslassen können, wenn Sie Ihren Job beim Internationalen Roten Kreuz antreten?Mit der Niederlegung meines Amtes ist auch dieses Engagement grundsätzlich beendet. In meiner neuen Funktion beim Roten Kreuz geht es ebenfalls um die Verhinderung von Folter, hier steht die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in bewaffneten Konflikten im Vordergrund. Wie in jedem Strafverfahren sollten selbstverständlich auch hier die Täter verfolgt und bestraft werden – und nicht Whistleblower, Journalisten oder andere Zeugen, welche diese Verbrechen aufgedeckt haben.
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