Das Ende aller Reisen

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    Die Entwicklung Afrikas liegt in den Händen der Frauen - das ist kein programmatischer Satz, sondern Alltagserfahrung. Wie aber wachsen diese Frauen auf, und welche Konsequenzen ziehen sie aus ihrer Kindheit für ihr eigenes Leben als Frau? Zwei Portraits von rebellischen Afrikanerinnen aus polygamen Gesellschaften, die dieses Thema in ihrer Arbeit reflektieren. Siehe auch

Sie hatte vier Listen aufgestellt. Auf unterschiedlich farbigem Papier. Auf der roten Liste standen alle Dinge, die sie bislang immer mal wieder vergessen hatte: Nähzeug, Taschentücher, Sicherheitsnadeln, Krankenschein, Pflaster, Geld, Schecks, Ausweis und Ersatzbrille. Auf der grünen Liste standen alle Sachen, die sie nie vergaß, wie Schuhe, Strümpfe, Wäsche, Blusen, Röcke, Hosen, Pullover, Waschzeug. Auf der gelben Liste stand alles, was sie vor der Reise erledigen musste: Die Zeitung abbestellen, den Nachbarn Bescheid sagen, die Heizung umstellen, das Wasser abstellen, den Müll hinausbringen, die Blumen wässern, die Fenster schließen, den Schlüssel abgeben. Auf der weißen Liste standen alle Gegenstände, die nicht unbedingt mitgenommen werden mussten, aber manchmal gefehlt hatten: Regenschirm, Taschenlampe, Wörterbuch, Strickzeug. Vor dem Packen legte sie die Zettel nebeneinander und las sie mehrmals. Als sie sie auswendig gelernt hatte, legte sie sie für die nächste Reise in eine Schublade, in der sämtliche Listen aller vorangegangenen Reisen lagen, aus denen sie die neuen Listen für die kommenden Reisen neu zusammenstellen konnte. Es konnte sich nämlich herausstellen, dass das Nähzeug auf die grüne Liste übertragen werden konnte, da sie es dreimal nicht vergessen hatte, oder dass die Taschenlampe von der Liste der entbehrlichen Gegenstände gestrichen werden konnte, weil sie sie wirklich noch nie gebraucht hatte. Von der grünen Liste mussten die Pullover auf die rote umgeschrieben werden, weil sie entgegen ihrer bisherigen Planung doch nicht zu den Unvergesslichen gehört hatten. Deshalb war es wichtig, alle Listen von allen Reisen aufzuheben und stets miteinander abzugleichen. Während der Reisen legte sie neue Listen an, denn jedes Land, jede Jahreszeit rief andere Bedürfnisse hervor, die sie vorher nicht bedacht hatte. In jedem Land lebten andere Insekten zu anderen Jahreszeiten, und während man in dem einen Land in jedem Hotel Nähzeug bereithielt, bekam man in dem anderen Land nicht einmal eine einzige Sicherheitsnadel.

Sechs Wochen vor einer neuen Reise begann sie, die vorhandenen Listen unter den Bedingungen der letzten Reise, den vermutlichen Umständen der kommenden Reise und den Bedürfnissen ihres fortschreitenden Alters anzupassen. Während der nächsten Reise entwickelte sie neue Listen und Farbsysteme und nach der Reise war sie vier Wochen damit beschäftigt, die vergangene Reise im Lichte der Erfahrungen aus den mitgebrachten Listen zu überprüfen. Bald benötigte sie einen Koffer extra, der ausschließlich Listen enthielt, denn ihre frühere Gewohnheit, die Listen vor dem Packen auswendig zu lernen, erwies sich als unzuverlässig, da die Listen zum Auswendiglernen zu differenziert und zu lang geworden waren. Sie legte einen blauen Zettel an, auf dem stand "Listenkoffer nicht vergessen". Schließlich erwies es sich als sinnvoll, einzelne kleine Koffer für die jeweiligen Listen zu organisieren. Sie brauchte lange, um einen roten Koffer für die roten Listen, einen für die blauen, einen für die weißen, zu finden. Die gelben Listen für die vor Reiseantritt zu erledigenden Geschäfte blieben zunächst zu Hause. Nach einer Weile entschied sie jedoch, während der Reise schon einmal die keinesfalls zu vergessenden Erledigungen vorzuplanen, die möglicherweise noch nicht auf der zu Hause gebliebenen gelben Liste gestanden hatten und nach der Rückkehr konnte sie die auf der Reise sozusagen aus dem Kopf rekonstruierte und ergänzte gelbe Liste der vor einer Reise zu erledigenden Angelegenheiten vergleichen und optimieren. Am schwersten war der weiße Koffer mit den weißen Listen derjenigen Gegenstände, die nicht unbedingt überlebenswichtig, aber doch bei Vorhandensein die eine oder andere Annehmlichkeit bereiten konnten. Diese Listen waren ohnehin auf den Reisen selber am besten zu vervollkommnen, denn erst dort merkte sie, was eventuell klugerweise ins Gepäck gehört hätte, freilich nicht absolut unverzichtbar war. Der rote, der grüne und der weiße Koffer wurden immer schwerer. Die Zeit zwischen den Reisen wurde immer kürzer, da die Listenverwaltung immer zeitraubender und aufwendiger wurde, der blaue Zettel mit der Aufschrift "Listenkoffer nicht vergessen" dauernd verschwunden war und die gelben für die Reisevorbereitungsangelegenheiten einen ganzen Ordner füllten, gab sie das Reisen schließlich ganz auf und widmete sich ruhig und besonnen der Archivierung und Perfektionierung der Reisevorbereitungs-, Reisegepäck- und Reisenachbereitungslisten.

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