Ab in die Matrosenstille!

Russlands erster Milliardär in der Gemeinschaftszelle Mit der Beugehaft gegen Michail Chodorkowskij lässt Präsident Putin in den Wahlkampf eingreifen

Als am Morgen des 25. Oktober ein Privatjet in Nowosibirsk landet, laufen statt der Techniker Männer in Tarnanzügen und mit Maschinenpistolen zum Flugzeug. Kaum haben sie die Maschine betreten, ertönt der Ruf "Hände hoch, sitzen bleiben, hier spricht der FSB." Warum ausgerechnet der russische Inlandsgeheimdienst gegen Michail Chodorkowskij, den Chef des Ölkonzerns Jukos, aktiv wird und Gefahr im Verzug sein soll, bleibt zunächst unklar. Stunden später erklärt die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau, Chodorkowskij habe eine Gerichtsvorladung missachtet - daraufhin kontert Jukos, man habe den Justizbehörden mitgeteilt, dass sich Chodorkowskij auf einer Reise befinde, nach dem Gesetz, reiche dies als Begründung für ein Nichterscheinen aus.

Nachdem Russlands erster Milliardär mit "FSB-Eskorte" in Moskau gelandet ist, steht er auch schon vor dem Untersuchungsrichter. Der Generalstaatsanwalt erhebt Anklage in sieben Punkten - die bereits im Juli begonnenen Strafaktionen gegen den Ölkonzern werden um eine veritable Kriegserklärung angereichert. Es geht um die Privatisierung des Unternehmens Apatit 1994, um Steuerhinterziehung, Betrug, Unterschlagung, Fälschung von Dokumenten, Verbrauch fremden Eigentums - Schadenshöhe: eine Milliarde Dollar. Noch einmal wird Jukos am Abend des 25. Oktober aktiv und erklärt per Sprecher, die Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage. Doch was nützt es - an Russlands erfolgreichstem Oligarchen, dem erst 40-jährigen Michail Chodorkowskij, wird fünf Wochen vor der Duma-Wahl ein Exempel statuiert, ihm drohen zehn Jahre Haft. Er darf den Umstieg vom Privatjet in die Haftanstalt als Abstieg auskosten, die erste Nacht verbringt er zunächst zusammen mit Häftlingen aus der Moskauer Unterwelt in einer Gemeinschaftszelle des Untersuchungsgefängnisses Matrosenstille - seit der Festnahme in Nowosibirsk sind noch keine 24 Stunden vergangen.

Im Juli begannen die Ermittlungen gegen den Giganten Jukos, als der gerade über eine Fusion mit dem Konkurrenten Sibneft verhandelte, um das viertgrößte Ölunternehmen der Welt aus der Taufe zu heben. Zunächst landet der Chef der Jukos-Hausbank Menatep in Untersuchungshaft - ebenfalls in der Matrosenstille -, dann tauchen Sicherheitsbeamte an der Schule von Chodorkowskijs Tochter auf, schließlich wird in aller Öffentlichkeit über die Unterstützung des Oligarchen für die liberalen Parteien Union der Rechten Kräfte (UDK) und JABLOKO schwadroniert. Damit fällt Chodorkowskij besonders bei den "Silowiki", den Sicherheitsleuten im Kreml, in Ungnade - so kurz vor der Duma-Wahl so eindeutig gegen die Präsidentenpartei Einheit und damit gegen Wladimir Putin in Stellung gehen? Man fürchtet den eigenwilligen Öl-Öligarchen, von dem bekannt ist, dass er Russland von einer präsidialen in eine parlamentarische Republik umbauen will und sich dabei eine Schlüsselrolle als Ministerpräsident vorstellen kann. Wenn Jukos wie geplant ein strategisches Aktienpaket ins Ausland verkauft - Verhandlungen gibt es mit Exxon Mobil und Chevron Texaco -, könnte das Unternehmen nicht nur dem Zugriff des Staates weiter denn je entzogen, sondern auch der Tycoon seinen Plänen näher denn je sein.

Anatolij Tschubais, Chef des staatlichen Stromkonzerns RAOJEES, spricht denn auch für den Unternehmerverband nach der Verhaftung Chodorkowskijs von einer "äußerst gefährlichen Entwicklung", die nur der Präsident aufhalten könne. Und Grigorij Jawlinskij, Führer der liberalen JABLOKO, auf deren Liste zur Dumawahl gleich drei Jukos-Manager stehen, meint gar, es gäbe eine "Stalinisierung" der Gesellschaft, die mit der Abschaltung kritischer Fernsehkanäle begonnen habe. Sogar die Möglichkeit eines Staatsstreichs will der JABLOKO-Chef nicht ausschließen. Für ihn steht außer Zweifel, dass der Schlag gegen Chodorkowskij ohne Billigung Putins undenkbar gewesen sei. In einer gemeinsamen Erklärung von UDK und JABLOKO wird der Kreml aufgefordert, nicht länger zu schweigen. Es habe, so räumt Jawlinskij ein, "große Fehler bei den Reformen" gegeben. Im Land gäbe es "viel Neid". Deshalb würden die Maßnahmen des Generalstaatsanwalts von einem Großteil der Bevölkerung gebilligt. Indirekt hat der JABLOKO-Chef damit auch die Frage gestellt: Warum sollte der Kreml noch vor der Wahl in ein schwebendes Verfahren - zumal ein solch brisant politisches - eingreifen?

Michail Chodorkowskij selbst gibt sich gelassen, wenn es nur die Alternative zwischen "Politemigrant" und Gefängnis gäbe, dann müsse man ihn halt einsperren, ließ der Mann mitteilen, dessen Vermögen auf acht Milliarden Dollar geschätzt wird.

Seine ersten Geschäftserfahrungen hatte er während der Perestroika gesammelt. Er leitete das Zentrum Wissenschaftlich-Technisches Schaffen der Jugend und handelte damals mit Cognac und Computern. Der Geheimdienst drückte ein Auge zu. 1989 gründete der Jung-Unternehmer die Bank Menatep, diestaatliche Einlagen aus dem Fonds für Tschernobyl-Opfer und Budget-Gelder der Stadt Moskau verwaltete. Von den Gewinnen kaufte sich Chodorkowskij die Aktienmehrheit bei Jukos.


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