Der Glückssucher vom Pawelezkij-Bahnhof

DIE LEBENSUHR DES ALEXEJ STAROSKIN Unterwegs im Teufelskreis aus Kriminalität und Lagerhaft, Obdachlosigkeit und Alkoholismus

Der Mann, der da im Park sitzt, ist frisch rasiert und gekämmt, die helle Hose leicht verstaubt, die blaue Jacke nicht mehr die Neueste - doch nichts deutet darauf hin, dass Alexej Starostin auf der Straße lebt. Der 52jährige zieht zwei gelbe Einweg-Rasierer aus der Hosentasche, grinst und zeigt auf einen Tümpel: »Wasser findet man immer irgendwo ...«

Dann massiert er sich die Wangen und strahlt: »So mache ich mich frisch.« Die Polizei halte vor allem die Unrasierten und Dreckigen an. Da könne er nichts riskieren. Vor einigen Jahren ist ihm der Pass gestohlen worden, und als er im Lager saß, wurden ihm die Registrierung für Moskau und damit sein Wohnrecht entzogen. Sollte ihn jetzt eine Streife aufgreifen, lande er sofort in einer »Sammelstelle« - gemeint ist eine gefängnisartige 25 Quadratmeter große Zelle, in die von der Polizei nicht selten bis zu 20 Menschen gepfercht werden, die »irgendwie auffällig« waren.

»Bis zu zehn Tagen werden die Menschen festgehalten, so lange, bis ihre Identität feststeht« - Alexej Nikiforow ist Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, die Hilfsorganisation gilt in Moskau als einer der wenigen Anlaufpunkte, an denen Obdachlose sich waschen können oder medizinische Hilfe erhalten. »Wer von der Polizei ohne Registrierung angetroffen wird, muss ein Strafgeld zahlen. Oft wird auch einfach der Pass einbehalten«, erzählt Nikiforow. »Der Polizist sagt: Wenn du das Geld bringst, bekommst du deinen Pass zurück. Der Mann geht also los und wird an der Straßenecke vom nächsten Polizisten angehalten. Jetzt hat er schon keinen Pass mehr und kommt garantiert in eine der ›Sammelstellen‹.«

Pro Jahr werden dort bis zu 20.000 Menschen interniert - 400.000 in ganz Russland. Die Sicherheitsorgane begründen ihr Vorgehen mit »einer besonders hohen Zahl von Straffälligen« unter den Obdachlosen. Nikiforow widerspricht. Er verweist auf ein Schreiben der Innenbehörde, nach dem nur drei Prozent der in die »Sammelstellen« eingelieferten Personen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen seien. Diese Zahl entspricht exakt der Quote jener Männer, die derzeit in Russland eine Haftstrafe verbüßen. Eine Million Menschen lebt in Gefängnissen und Lagern - etwa drei Prozent der männlichen Bevölkerung. Die Obdachlosen, die betrunken und verdreckt an den Bushaltestellen rumliegen, seien nur die Spitze des Eisberges, meint Nikiforow. Das Gros der etwa 100.000, die in Moskau ohne festen Wohnsitz lebten, falle optisch gar nicht auf. Das seien normale Arbeitssuchende aus dem ganzen Land, von der Hoffnung beseelt, im »reichen Moskau« eine Beschäftigung zu finden. Sie suchten sich meist für ein paar Rubel eine Schlafstelle bei einer Babuschka in einem Moskauer Vorort. Oder sie kriechen bei einem Alkoholiker unter und bezahlen mit einer Flasche Wodka.

Alexej Starostin zeigt stolz auf seine helle Hose und die Schuhe. Beides hat er von der Sozialfürsorge der russisch-orthodoxen Kirche an der Twerskaja bekommen. »Ein Vorteil im Vergleich zu früher. Da gab es überhaupt keine Hilfen für Haftentlassene.« Zu Zeiten der Sowjetunion wurden Obdachlose 100 Kilometer vor die Stadt gefahren und dort ausgesetzt. Hauptsache, sie waren in der Stadt nicht mehr zu sehen. Heute kann Alexej in Moskau immerhin nach Arbeit suchen. Die letzte Nacht hat er in einem Eisenbahnwaggon am Pawelezkij-Bahnhof geschlafen. »Da muss man zwar drei Kilometer laufen, aber immerhin, man hat Ruhe vor der Polizei.«

Tagsüber sitzt er gern am Ufer eines Stadtsees, die Hände ineinander verschränkt, der Blick ist hart und düster in die Ferne gerichtet. Alexej erzählt angespannt und schnell, als würde ihn ständig jemand antreiben. Vor drei Wochen wurde er aus einem Strafgefangenenlager im Gebiet von Wolgograd entlassen. Wegen eines Taschendiebstahls saß er dreieinhalb Jahre hinter Stacheldraht. Bei seiner Entlassung bekam er 101 Rubel (7,80 DM) auf die Hand. Mehr hatte der Staat für seine Wiedereingliederung nicht übrig. Nachdem sich Russland Anfang der neunziger Jahre für westliche Resozialisierungsmodelle interessiert hatte, setzte sich schließlich die Praxis durch, entlassene Strafgefangene sich selbst zu überlassen und sie weder mit Arbeitszwang zu gängeln, noch ihnen mit Resozialisierungshilfen unter die Arme zu greifen.

In diversen Vorortzügen (dort werden keine Billetts kontrolliert) schlug sich Alexej von Wolgograd nach Moskau durch. Die Rubel aus dem Lager sind längst ausgegeben - jetzt sammelt er Flaschen. »Von irgendwas muss ich ja leben ...« - Wird er sich wieder mit kleinen Diebstählen über Wasser halten? Einer eindeutigen Antwort weicht der ehemalige Häftling aus. Stattdessen verkündet er stolz, dass er nun schon zwei Tage nichts trinke. »Es fehlt einfach das Geld. Wenn ich auf sechs Rubel komme, kaufe ich dafür lieber ein Brot. Im Lager habe er gelernt, Holz zu fällen und es weiterzuverarbeiten. Vielleicht finde er in Moskau eine Arbeit in einem Möbelbetrieb, dafür aber brauche er eine Registrierung in der Stadt und einen Pass.

Im Büro von Ärzte ohne Grenzen wird Alexej empfohlen, er solle sich zunächst in einem Notschléschka, einem Obdachlosenheim, einquartieren. Als gebürtiger Moskauer habe er Anrecht auf eine Wohnung. »Ich glaube, es hat Sinn, wenn ich zu einem Anwalt gehe, um mich beraten zu lassen. Immerhin leben wir jetzt in einer Demokratie.«

Augenblicklich verfügt Alexej nur über seinen hellblauer Haftentlassungsschein, den er bei einer Kontrolle vorweisen kann. Das Dokument trägt den Stempel »TBC-minus« - »geschlossene Tuberkulose«. Im Dezember hatte man den auf 50 Kilogramm abgemagerten Starostin in das Lagerhospital eingeliefert. Dort war die Ernährung etwas besser, und nach einigen Monaten hatte er sein Normalgewicht von 70 Kilogramm wieder erreicht.

Der Hunger im Lager sei schrecklich gewesen. 80 der 700 Insassen seien im vergangenen Jahr an Unterernährung, TBC und anderen Krankheiten gestorben. »Wenn man hungert, dann greift man bei der Essensausgabe gierig nach dem größten Stück Brot. »Dass ich überlebt habe, verdanke ich meiner Schwester. Nicht die Lebensmittel, die sie schickte, retteten mich, sondern das Gefühl: Jemand denkt an mich ...«

Nach seiner Ankunft in Moskau führte sein erster Weg zum Friedhof, auf dem das Grab seiner Mutter liegt. Sie starb 1971. Starostins Stimme zittert. »Am Grab sprach ich mit ihr. Verzeih mir, so ist das Leben. Nun gehe ich ohne dich schlafen.« Im Lager sei ihm die Mutter im Traum erschienen. Sie habe ihm gezeigt, wie man sich bekreuzigt. Alexej zieht aus der rechten Brusttasche ein kleines Büchlein. »Das Neue Testament. Manchmal lese ich ein paar Seiten. Ich glaube, einige Gedanken sind mir schon klar.« In der anderen Brusttasche hat er seine Ikone verwahrt, ein Heiligenbild auf Papier. »Ich hoffe, sie bringt mir Glück.«

Nach dem Besuch auf dem Friedhof war er bei seiner Schwester Vera. »Sie gab mir 100 Rubel - mehr konnte sie nicht entbehren. Sie ist ja selbst schon Rentnerin.« Außer Vera und der Mutter habe er eigentlich nie einen Menschen geliebt. Natürlich sei er mit einigen Frauen zusammen gewesen. Aber Liebe sei das nicht gewesen - ja, er brauche Freunde. Aber besoffene Obdachlose? Seine alten Bekannten sind alle durch den Alkohol gestorben.

Mit 16 beging Alexej seinen ersten Einbruch. Aus einem Kaufhaus holte er sich nachts Radios, Photoapparate, Uhren und Schuhe. Auf dem Schwarzmarkt setzte er die Sachen für 3.000 Rubel ab. Das entsprach damals zwei Jahresgehältern. Fünf Jahre musste er dafür ins Lager. Die zweite Haftstrafe traf ihn, weil er gefälschte Billetts vor der Moskauer Konzerthalle Luschniki verkauft hatte. »Eigentlich bin ich von Natur aus Händler. Ich wurde nur nicht in der richtigen Zeit geboren«, meint Alexej trocken. »Früher hieß das ›Spekulazia‹ und man kam dafür hinter Gitter - heute heißt es ›Komerzia‹ und ist legal ...«

Ein Viertel der Menschen lebt in Russland offiziell unterhalb des Existenzminimums. Doch in Wirklichkeit hat die Armut weit größere Ausmaße. Im Grunde sind alle »Budgetniki« - all jene, die ihre Gehälter vom Staat bekommen - Lehrer, Ärzte, Beamte - arm. Ein Arzt verdient in Moskau 2.000 Rubel (156 DM), in der Provinz sogar nur 500. Abgesehen von den ganz Reichen ist nur der kleine russische Mittelstand - in der Regel Händler - materiell einigermaßen versorgt. Viele Menschen halten sich mit einem Zweit- und Drittberuf in der Schattenwirtschaft über Wasser.

Die offizielle Armuts-Statistik hat nur einen begrenzten Aussagewert, weil russische Betriebe, um Steuern zu sparen, oft zwei Löhne zahlen. Über den kleineren Teil des Lohnes geht eine Information an das Finanzamt, der größere Teil - von dem die Behörde offiziell nichts weiß - wird dem Mitarbeiter in einer Tüte verschwiegen zugesteckt.

Doch selbst mit Zweitjob und Zweitlohn reicht das Geld zum Leben nicht. Nur der Familienverband sichert die Existenz und sorgt für Hilfe in Notfällen - manchmal ist es eine Rente von 500 Rubeln, die eine ganze Familie aushält. Das Wichtigste ist jedoch der Garten. An den Wochenenden und im Sommerurlaub wird dort hart gearbeitet. Kohl, Kartoffeln, Mohrrüben, rote Bete, vitaminreiche Marmelade und Pilze aus dem Wald, all das ist für die Russen in den vergangenen zehn Jahren zu einer unentbehrlichen Existenzgrundlage geworden.

»Zwölf Prozent der Obdachlosen in Moskau haben eine höhere Ausbildung.« meint Nikiforow, »viele stolpern völlig unwissend durch den russischen Kapitalismus.« Zu Sowjetzeiten sei jeder Mann im arbeitsfähigen Alter verpflichtet gewesen, einer Beschäftigung nachzugehen. Und Haftentlassene wurden den Betrieben einfach zugeteilt. Heute liege die Verantwortung für die Arbeitssuche vollständig auf den Schultern jedes einzelnen.

Viele Obdachlose - so Nikiforow - seien auch Opfer gerissener Wohnungsvermittler. Als die Russen Anfang der neunziger Jahre zu Besitzern ihres Wohnraums wurden, machten sich einige Wohnungsagenten die juristische Unwissenheit der Menschen zunutze. Wer mit Hilfe eines Maklers aus seiner Drei-Zimmer in eine Zwei-Zimmer-Wohnung wechseln wollte und ausschließlich den Dokumenten der Wohnungsagentur vertraute, hatte am Ende oft alles verloren. Die neuvermittelte Wohnung existierte manchmal gar nicht, oder die Dokumente waren gefälscht. Gleichzeitig gab es jene Familien, die früher in betriebseigenen Wohnungen lebten. Doch wer entlassen wurde oder die Arbeit verloren hatte, weil das Unternehmen in Konkurs ging, musste automatisch auch die Betriebswohnung räumen.

Alexej Starostin, wird heute abend wieder in seinem Waggon schlafen. »Das Wichtigste ist jetzt, dass ich nicht wieder zu saufen anfange«, meint er. »Ich sage zu mir selbst: Komm auf die Beine, Alexej Starostin. Wenn ich jetzt noch einmal ins Lager muss, komme ich nie wieder raus. Ich will aber noch ein bisschen leben ...«

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