Der Strom fließt und strahlt

Krasnojarsk-26 in Sibirien Eine Nuklearanlage am Jenissej empfiehlt sich als Atommülldeponie des Westens und wartet bisher vergeblich auf Kundschaft

Als die Moskauer Duma im Vorjahr ein Gesetz verabschiedete, das die Einfuhr von nuklearen Brennstoffen aus dem Ausland zur Wiederaufbereitung in Russland erlaubt, frohlockte der damalige Atomminister Jewgenij Adamow. Sein Blick richtete sich auf das sibirische Schelesnogorsk am Jenissej und die dortige Wiederaufbereitungsanlage RT-2, die zu diesem Zeitpunkt nur zu knapp 50 Prozent ausgelastet war und im wahrsten Sinne des Wortes einer "strahlenden Zukunft" entgegensehen sollte.

Durch die hellgrünen Hopfenblätter vor dem Fenster fällt Sonnenlicht. Auf dem Küchentisch türmt sich ein gewaltiger Berg Pflaumen, die Tanja einkochen will, um Vitamine für den Winter zu bunkern. Aus einem Kassettenrecorder tönt ein weiches Liebeslied. Manchmal wirft die 25-Jährige mit den schwarzen Haaren einen fürsorglichen Blick zu ihrem dreijährigen Kolja, der den Gast neugierig beäugt oder sie sieht durch das Küchenfenster, um den Jenissej zu beobachten, der sich in seinem stählernen Blaugrau durch diese wald- und beerenreiche Gegend wälzt, vorbei am Dorf Atamanow, nach Norden in Richtung der sibirischen Großstadt Krasnojarsk.

"Die eifersüchtigen Bewunderer der Wolga mögen es mir verzeihen, wenn ich sage, dass ich in meinem Leben keinen prächtigeren Fluss als den Jenissej gesehen habe ...", schrieb einst der Dichter Anton Tschechow, als er den wasserreichsten Strom Sibiriens auf dem Weg nach Sachalin im Frühsommer des Jahres 1890 unweit von Atamanow mit einer Fähre überquert haben soll. Wenn Tanja aus ihrer Kochnische das gegenüberliegende Ufer in Augenschein nimmt, könnte sie sich inspiriert fühlen, Tschechows Passion widerspruchslos zu folgen. Dicht mit Tannen und Lärchen bewachsene, sanft geschwungene Berge füllen ein romantisches Landschaftsgemälde, mit dem die Wildnis Sibiriens um keinen Hauch vom Klischee weichen würde, wären da nicht ein paar Industrie-Schlote, die unvermittelt aus dem Wald ragen, aber von keinem Fabrikgelände umgeben scheinen. "Ausnahmslos unter der Erde liegen die riesigen Produktionsanlagen, dort arbeitet ein Atommeiler und produziert Plutonium", klärt mich der 37jährige Pjotr, Tanjas Ehemann, auf, der in seinem kurzen Bericht über die Geschichte des Phänomens Krasnojarsk-26 bis in das Jahr 1949 zurückgeht, als die Sowjetunion ihre erste Atombombe (s. Übersicht) zündete.

Seinerzeit begann der Bau dieses unterirdischen Nuklearzentrums, das zunächst unter der unverdächtigen Bezeichnung Bergbau- und Chemiekombinat - Krasnojarsk-26 firmierte. Das Projekt erwies sich bald als eine der tragenden Säule des nationalen Kernwaffenprogramms. Innerhalb von wenigen Jahren entstand am Jenissej mit 3.500 Räumen, Hallen und Röhren der größte unterirdische Nuklearkomplex der Welt - ein Metropolis des Atomzeitalters. Die Lemuren dieses in den Fels geschlagenen Höhlensystems, Zehntausende von Atomarbeitern aus allen Teilen des Landes, bezogen über der Erde mit Schelesnogorsk eine Stadt, die zu Lebzeiten der Sowjetunion auf keiner Karte zu finden war. Damals galt, was auch heute noch gilt, wer Schelesnogorsk besuchen will, kann das nur mit einer Sondergenehmigung des Ministers für Atomwirtschaft im fernen Moskau. Wem es gelingt, sich dieses Eintrittsbillett zu sichern, der erlebt eine Reißbrettstadt in der monolithischen Instant-Architektur der mittleren Fünfziger, die sich augenscheinlich einer wirtschaftlichen Prosperität erfreut, wie sie im Fernen Osten keinesfalls zu den Ausnahmen der Transformationsperiode zählt. Während der vergangenen Jahre haben sich in Schelesnogorsk etliche Hochtechnologie-Firmen etabliert, die Satellitenantennen und Relaisstationen für den nationalen Markt bauen. Vor allem jedoch kursiert die Erwartung, Deutschland, die Schweiz und andere europäische Staaten könnten sich dazu durchringen, ihren radioaktiven Abfall zur Wiederaufbereitung nach Sibirien zu schicken. Seit 1985 nämlich steht das Label Krasnojarsk-26 auch für die größte, über der Erde gelegene Atommülldeponie Russlands, in der zur Zeit 3.000 Tonnen verbrauchter Brennelemente gelagert und wiederaufbereitet werden können - mindestens das Doppelte wäre denkbar, sagt das Management.

Die sowjetische Atombombe

Nach den Atombombenabwürfen der USA auf Hiroshima und Nagasaki wird die Arbeit sowjetischer Wissenschaftler am "atomaren Schutzschild" beschleunigt. 1947 nimmt der erste Atomreaktor Tscheljabinsk-40 im Ural seinen Betrieb auf - erster Brennstoff ist "Beute-Uran" aus Deutschland. 1948 beginnt dann in Tschjelabinsk die Produktion von waffenfähigem Plutonium. 1949 zündet die Sowjetunion ihre erste Atombombe mit einer Sprengkraft von 20 Kilotonnen auf dem Testgelände von Semipalatinsk in Kasachstan. Nach der Errichtung von Tscheljabinsk-40 und Tomsk-7 (Westsibirien) beginnt 1949 der Bau des dritten Atomzentrums Krasnojarsk-26 (Ostsibirien).

Plutonium gibt es genug

1958 ging in dem, vor der Sonne tief in den Berg versenkten Bergbau- und Chemiekombinat der erste von drei Kernreaktoren in Betrieb. Die Arbeitsbedingungen unter Tage waren ungeheuer gesundheitsschädigend. Oft reichten schon wenige Monate im Labyrinth von Krasnojarsk-26, um durch die Uranstrahlung invalidisiert zu werden.

Ob sie keine Angst habe, neben dieser gigantischen Anlage zu leben, frage ich Tanja. "Natürlich", meint sie und hält einen Augenblick inne, "die leiten ja immer noch Abwässer in den Fluss. Früher war das wirklich extrem, weil man ja sah, was passierte. Alle Fische schwammen oben, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie zu fangen. Im Wasser fing außerdem alles mögliche Grüne an zu wuchern, wahrscheinlich eine Folge der Verseuchung, ich weiß es nicht ... "

Unter dem Eindruck der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl (1986) wurden 1992 die beiden ältesten Reaktoren AD und ADE-1 abgeschaltet. Für ihren Betrieb war Kühlwasser aus dem Jenissej gepumpt worden und an anderer Stelle wieder in den Fluss zurückgeflossen. Nach einem russisch-amerikanischen Vertrag soll nun spätestens 2006 auch der dritte und letzte Reaktor ADE-2 stillgelegt werden. Plutonium hat Russland ohnehin zwischenzeitlich mehr als genug.

Weil die Bevölkerung der Region überdurchschnittlich mit Radionukleiden belastet wird, gibt es ein paar Vergünstigungen. Für Wohnungen oder Häuser bezahlen die Menschen in Atamanow nur die halben Betriebskosten. Einmal ließ die Unternehmensleitung auch Kinderspielzeug verteilen. "Bevor die Kinder es bekamen, verschwand ein Großteil auf den Märkten in Krasnojarsk", erzählt Pjotr lakonisch.

Seit wenigen Jahren versucht er, sein Geld wieder als Fischer zu verdienen. Mit einem kleinen Motorboot nimmt er mich mit über den Fluss. Als wir auf der anderen Seite anlegen - der Jenissej ist hier 100 Meter breit -, stehen dort weiße Schilder. "Sanitäre Schutzzone. Betreten verboten. Jagen und Sammeln von Beeren und Pilzen verboten!" Die Tafeln sind nagelneu.

Deponie "Krasnojarsk-26"

Im nassen Lagerbecken von Krasnojarsk-26 befinden sich heute etwa 3.000 Tonnen Brennstäbe (Fassungsvermögen: 6.000 Tonnen). Zur Zeit liegt dadurch die Radioaktivität des Beckens bei 2,8 Milliarden Curie. Zum Vergleich: Bei der Tschernobyl-Katastrophe 1986 gelangten etwa 50 Millionen Curie in die Atmosphäre. Russlands Atomministerium plant den Bau eines neuen, trockenen Lagerbeckens mit einem Fassungsvermögen von 33.000 Tonnen für in- und ausländischen Atommüll. Zusätzliche radioaktive Belastung: voraussichtlich 20 Milliarden Curie.

100 Mikroröntgen über normal

Im Februar war eine Gruppe von Ökologen - unter ihnen der liberale Duma-Abgeordnete Sergej Mitrochin - in das Gelände unweit des Lagerbeckens für abgebrannte Brennstäbe geraten. Mitrochin hatte ein Fernsehteam an seiner Seite, so dass die verdeckte Expedition als Feature im Kanal NTW ausgestrahlt werden konnte. Sie sollte zeigen, so die Umweltschützer, dass es für Terroristen - egal, woher sie kämen - ein Leichtes sei, das Atommülldepot zu erreichen und zu beschießen. Niemand zeigte sich davon sonderlich beeindruckt.

Das Steilufer unterhalb des Atomkomplexes ist mit Metallschrott übersät - überall verrostete Loren, Ventile, Rohre und Metallstreben. Mit seinem Dosimeter misst Pjotr 57 Mikroröntgen pro Stunde. Der Normalwert liegt zwischen fünf und fünfzehn. Zehn Meter über uns fährt ein Zug vorbei. Plötzlich, innerhalb von Sekunden, versackt das Geräusch und ist jäh verschwunden. "Der Zug fährt die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze im unterirdischen Kombinat", erklärt Pjotr, "9.000 Menschen arbeiten direkt im Komplex. Immer noch ein sehr begehrter Job, vom Verdienst her sind im Monat mindestens 200 Dollar möglich."

Wenige Meter weiter ragen zwei riesige Röhren jäh aus dem Abhang. "Hier wurden einmal die Abwässer in den Strom geleitet", erinnert sich Pjotr und misst erneut. Das Display zeigt jetzt 117 Mikroröntgen. Von fern nähert sich das rhythmische Stampfen eines Schiffsmotors. Langsam schiebt sich das Passagierschiff Anton Tschechow den Fluss hinauf, an der Reling winkende Touristen, auf "dass ich in meinem Leben keinen prächtigeren Fluss als den Jenissej gesehen habe ..." Ob sie ahnen, wie sich Tschechow nun irren würde? Was sich unter der geschmeidigen, allseits bewunderten Flusslandschaft verbirgt?

Das Jahrhundertgeschäft

Das russische Atomministerium sucht händeringend nach Geld. Die Zahl der Kernkraftwerke soll in den nächsten 30 Jahren verdoppelt werden, während die 30 vorhandenen Anlagen dringend modernisiert werden müssen. Russland könne mit der Wiederaufbereitung von 20.000 Tonnen ausländischen Atommülls 20 Milliarden Dollar verdienen, so das Kalkül, wobei mit den Einnahmen auch radioaktiv belastete Gebiete entseucht werden sollen. Angeblich laufen Verhandlungen mit Japan, Taiwan, Südkorea, Spanien, der Schweiz und Deutschland, doch kommt der Jahrhundert-Deal nicht zustande. Inzwischen hat das Oberste Gericht zugunsten der Bürger von Tscheljabinsk entschieden und die Einfuhr ungarischen Atommülls für ungesetzlich erklärt, da bei der Wiederaufarbeitung anfallende Abfälle für immer in Russland blieben.

Das Lied von ewiger Liebe

Nach einer Stunde Autofahrt in Richtung der Millionenstadt Krasnojarsk treffe ich im kleinen Büro des Bürgerzentrum für die Nichtverbreitung von atomaren Stoffen Wladimir Michejew. Der Mann mit dem schwarzen Kosakenbärtchen gehört zu den Gründern der Anti-Atom-Bewegung des Gebietes. Als er Anfang der neunziger Jahre zusammen mit anderen die ersten Messungen auf dem Jenissej vornahm, war er schockiert. "Wir haben manchmal 3.000 Mikroröntgen pro Stunde gemessen - eigentlich verheerend für Krasnojarsk. Die Menschen wussten nicht, dass zu diesem Zeitpunkt im geheimen Atomzentrum vor ihrer Stadt drei Atommeiler arbeiteten." Im Laufe der Untersuchungen stellte sich heraus, dass der Jenissej noch 500 Kilometer flussabwärts atomar belastet ist. Jetzt sammelt das Zentrum Unterschriften, damit Krasnojarsk-26 nicht zur Atommüllhalde der halben Welt wird. Wegen der beim Betrieb einer solchen Anlage drohenden Verstrahlung der Umgebung müssten nach geltendem russischen Umweltrecht eigentlich die lokalen Behörden entscheiden, ob eine Arbeitsgenehmigung erteilt wird. Doch das Management von Krasnojarsk-26 argumentiert mit gebetsmühlenartiger Stupidität, die Technologie sei derart ausgereift, dass keinerlei Gefahr bestehe - und wenn das so sei, liege die Entscheidung über den Betrieb allein beim Atomminister in Moskau. Deshalb, so Wladimir Michejew, hätten bisher auch alle Anläufe zu einem Referendum scheitern müssen - die Gebietsduma erkläre sich für nicht zuständig.

Während die Unternehmensleitung von Krasnojarsk-26 weitervom Milliarden-Geschäft mit ausländischem Atommüll träumt, das auf sich warten lässt, geht das Leben im Dorf Atamanow seinen gewohnten Gang. Tanja lässt das Messer fallen und stellt den Kasettenrecorder laut. "Das höre ich am Liebsten". Durch die kleine, schummrige Küche wabert ein flaumiges Lied von ewiger Liebe, Treue und dem Trost für die Geduld des Wartens am Jenissej.

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