Frontbesuch zum Mondschein-Tarif

Afghanistan im Griff der Weltpresse Bedeutend mehr Korrespondenten als News

Kurz vor dem russischen Checkpoint an der tadschikisch-afghanischen Grenze schlägt die lokale Mafia noch einmal zu. Statt zur Passkontrolle am Fluss wird die aus der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe kommende Autokolonne mit Nordafghanistan-Reportern aus aller Welt auf einen staubigen Trucker-Parkplatz umgeleitet. Eigentlich soll die Nacht schon auf der anderen Seite des Flusses verbracht werden. Doch unser Begleiter behauptet, wir müssten auf den Mondschein warten, um ohne das Licht der Fahrzeuge über den Grenzfluss Pjantsch übersetzen zu können. Gerade nachts seien die Scharfschützen der Taleban nicht zu unterschätzen. Damit uns die russischen Soldaten sicher über den Fluss geleiten, werden noch einmal 20 Dollar pro Person kassiert.

Am nächsten Tag, nach 17 Stunden auf dem einsamsten und verlorensten Parkplatz der Welt, kommt das Kommando zum Weiterfahren, so dass wir noch am gleichen Abend Khoje Badhawudine in Afghanistan erreichen - ein 10.000-Seelen-Ort, der fast ausschließlich aus flachen Lehmbauten ohne Elektrizität und fließendes Wasser besteht. Bungalows aus Stein, wie das kleine Gebäude des Außenministeriums der "Nordallianz", bilden die absolute Ausnahme. Im Hof stauen sich Aluminium-Kisten mit Equipment diverser Fernsehstationen, mobile Schnittplätze und Übertragungseinheiten. Paul, ein Sky-Channel-Producer, ringt um das Verständnis des dienstführenden Beamten, der in seinem rosafarbenen Gewand hinter einem bombastischen Schreibtisch residiert und unter einer schwach leuchtenden Birne ankommende Korrespondenten registriert. Der Fahrer des Autobusses, ein Mann mit langem schwarzen Bart und weißem Gewand, der uns vom Grenzfluss über eine von Schlaglöchern schwer gezeichnete Sandpiste an diesen Ort chauffiert hat, verlangt plötzlich für die Tour 800 statt der vereinbarten 200 Dollar. "Wir sind keine große Gesellschaft wie CBS oder NBC", klagt Paul, doch der Beamte offenbart wenig Neigung zum Schiedsspruch und schweigt. Man einigt sich schließlich auf 400 Dollar, und Paul zieht samt Ausrüstung auf das Flachdach des Bungalows, wo bereits der US-Sender Fox mit Zelt und Satellitenschüssel campiert.

Das Zimmer der Attentäter

Auch das Blumenbeet im Hof des Außenministeriums ist von Zelten und Satelliten-Antennen okkupiert, während sich auf der Veranda des Gebäudes Journalisten mit Laptops auf dem Schoß und der Antenne des Sat-Phones in Sichtweite niedergelassen haben. Ein russischer Reuter-Korrespondent bearbeitet seine Photos, eine Times-Reporterin erkundigt sich nach Sicherheitsstandards in den Zimmern. Ein dänisches Fernsehteam richtet sich für die Nacht ein. Auf dem Zementfußboden der Terrasse werden dazu lediglich Bastmatten ausgelegt. Die drei Männer machen einen entnervten Eindruck - der afghanische Winter steht vor der Tür und die Nacht im Schlafsack, eingebaut von Kameras und Lichtkoffern, verspricht nicht sonderlich komfortabel zu werden. Um so beliebter sind die Slawen, wenn sie die mitgebrachten Wodka-Flaschen öffnen. "50 Gramm am Abend ist das Minimum um Magen und Darm zu reinigen", klärt mich ein Kollege aus Moskau auf.

Sergej vom ukrainischen Fernsehkanal Inter beklagt sich bitter über ungerechte Arbeitsbedingungen. Während er mit seiner Crew im Zelt schlafen und unter freiem Himmel produzieren müsse, hausten die Kollegen von NBC und CBS in einem vergleichsweise luxuriösen Bungalow gleich in der Nachbarschaft.

Diesen Neubau, der ebenfalls zum Außenministerium der Anti-Taleban-Regierung des Präsidenten Burhanuddin Rabbani gehört, umgibt ein Schleier des Geheimnisvollen. Hier wurde am 9. September der Führer der Nord-Allianz Ahmed Shah Massud von vermeintlichen Journalisten während eines Interviews ermordet. Roman, News-Reporter beim russischen Fernsehkanals ORT, meint da mithalten zu können. Mit bedeutungsvoller Stimme erklärt er: "Mein Team schläft in dem Zimmer, das auch die Attentäter bewohnten".

Das Massenaufgebot an Reportern - etwa 700 Sonderkorrespondenten sind bisher in Khoje Badhawudine eingetroffen - steht im krassen Gegensatz zur Ereignisangebot. "Die Panzer der Allianz schießen an der Front nur für eine Flasche Wodka", meint ein russischer Kollege. "Die imitieren lediglich Artillerie- oder Panzerangriffe ..." Er weiß von einem britischen Fotographen, der im Bild festhielt, wie ein Team der BBC Angriffshandlungen der Nord-Allianz von Anfang bis Ende inszenieren ließ.

Der Hauptfeind heißt Hepatitis

Abends dann recken sich die Hälse der Korrespondenten, wenn auf den Kontrollmonitoren der mobilen Bodenstation die Nachrichten von CNN- und Katar-TV einlaufen: Im Zentrum von Afghanistan fallen Raketen und Bomben, und hier im Norden will die Mehr-Parteien-Allianz zum entscheidenden Schlag gegen die Taleban ausholen. Das lässt für Augenblicke die Unannehmlichkeiten des Standorts vergessen - die überlaufenden Toiletten, die Kälte, den ständige Staub und das trübe, verunreinigte Wasser aus den Brunnen in Khoje Badhawudine. Die Hauptfeinde der Presse heißen Hepatitis, Ruhr und Cholera. Aber um diese Gefahr zu verdrängen und einen gelegentlich akuten Mangel an "breaking news" zu überspielen, spekulieren alle über Ort und Zeitpunkt des kriegsentscheidenden Vorstoßes der Nordtruppen und amerikanischer Spezialeinheiten. Einige wollen gesehen haben, wie Tausende von Soldaten aus dem Pandschir-Gebirge in der Nähe des Ortes vorbei gezogen sind.

Morgens kriechen durchfrorene Reporter aus Zelten und Schlafsäcken. Wer im Jackett angereist ist, sieht einem Obdachlosen bald ähnlicher als einem Gutverdiener. Vor dem Arbeitszimmer des dienstführenden Beamten stapeln sich unterdessen die Schnürstiefel. Drinnen, auf dem weinroten Persianer, stehen die Besucher in Socken Schlange. Wer an die Front will, zahlt noch einmal 200 Dollar für Fahrer und Übersetzer. Wer eine Gruppe bilden will, braucht schon erhebliches Durchsetzungsvermögen. Das Außenministerium ist nur an Einzelkunden interessiert. Unterdessen geht die Meldung ein, ein weiterer Autokonvoi mit Reportern - bestehend aus 52 (!) Fahrzeugen - sei aus der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe im Anrollen. Wo die neuen Gäste untergebracht werden sollen, ist unklar. Wer sich im Zelt nicht eine Lungenentzündung zuziehen will, muss wohl oder übel in die einfachen Lehmhütten der Bewohner von Khoje Badhawudine ziehen.

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