Russlands Präsident Medwedjew spricht von Völkermord in Südossetien und weist die Schuld daran der georgischen Armee und ihrem Oberbefehlshaber Saakaschwili zu. Ein überzogenes Urteil? Tatsache ist, der Präsident in Tiflis befahl den Marsch in ein militärisches Abenteuer, an dem sein Land lange zu tragen haben wird.
Warum hat Präsident Medwedjew so lange geschwiegen?" fragt das Blatt Moskowskij Komsomolez Anfang der Woche. Geschlagene 15 Stunden brauchte der Kreml mit einer Reaktion auf den georgischen Artilleriebeschuss der südossetischen Hauptstadt Zchinwali. "Unsere weise Macht hat die Pässe mit dem Doppeladler an Südosseten und Abchasen gleich in ganzen Stapeln ausgegeben und lautstark versprochen, sie zu beschützen", schreibt die Zeitung weiter und spielt darauf an, dass in den beiden abtrünningen Kaukasus-Regionen je über 80 Prozent der Einwohner russische Staatsbürger sind. Eine Erklärung für das Innehalten oder Abwarten des Kreml gibt es bei Moskowskij Komsomolez allerdings nicht. Offenbar hat die russische Führung etwas länger über das richtige Vorgehen nachgedacht oder gezögert, getroffene Entscheidungen der Öffentlichkeit bekannt zu geben.
Der Angriff auf das 30.000 Einwohner zählende Zchinwali mit Raketen und Granatwerfern beginnt am 7. August (Donnerstag) eine halbe Stunde vor Mitternacht. Erst einen Tag später, gegen 15 Uhr, zum Auftakt der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, teilt Präsident Medwedjew lakonisch mit: "Wir lassen nicht zu, dass unsere Bürger ungestraft getötet werden. Die Verantwortlichen bekommen die ihnen gebührende Strafe." Dass die Reaktion hart ausfällt, hat sich bereits angekündigt. Um 13.10 Uhr hat das russische Verteidigungsministerium in Medwedjew-Diktion erklärt: "Wir lassen nicht zu, dass russische Friedenssoldaten und Bürger der Russischen Föderation zu Schaden kommen." Und Premier Wladimir Putin verspricht kurz vor Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking dem kasachischen Staatschef Nasarbajew, dass die Attacke Georgiens "eine Antwort finden" werde.
Putin und Medwedjew begründen den Gegenschlag zunächst mit dem Schutz des russischen Friedenskorps, das "nach internationalen Vereinbarungen" (gemeint ist ein Abkommen mit Georgien von 1992) in Süd-ossetien steht. Dieses Motiv lässt sich nicht von der Hand weisen, schwerer wiegt freilich, was Putin bei seiner Ankunft in Wladikawkas, der Hauptstadt Nord-Ossetiens, ausspricht: Russland habe im Kaukasus "über Jahrhunderte insgesamt eine positive, stabilisierende Rolle" gespielt. Das Drängen der georgischen Führung auf eine Mitgliedschaft in der NATO sei der "Versuch, andere Länder und andere Völker in ihre blutigen Abenteuer" zu ziehen. Gemeint ist der Traum des Präsidenten Saakaschwili, mit westlichem Beistand die verlorenen Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien zurückzugewinnen.
Aus Sicht des Kreml bleibt der Kaukasus die Lebensader Russlands. Hier bündeln sich Energie- und strategische Interessen. In keiner Region auf postsowjetischem Terrain gibt es soviel Spannungen, soviel Verführung zu Terror und Krieg. Im Kaspischen Meer lagern riesige Erdöl- und Erdgas-Vorkommen - Ressourcen, von denen sich die Amerikaner wünschen, sie ganz ohne Russland ausbeuten und vermarkten zu können. Auch deshalb begreift man in Moskau Südossetien und Abchasien als Vorposten, die mit administrativer und Infrastrukturhilfe in Größenordnungen bedacht werden. Je mehr Georgien mit der NATO kokettiert, desto großzügiger werden beide Provinzen unterstützt.
Zchinwali ist aus russischer Sicht das Srebrenica des Kaukasus
In nur 72 Stunden sterben beim Angriff auf Südossetien über 2.000 Menschen, heißt es in Moskau. Flüchtlinge berichten von maßloser Gewalt der georgischen Soldaten auch gegen Kinder und Frauen. Medwedjew weist die Generalstaatsanwaltschaft an, alle Verbrechen gegen Menschlichkeit zu erfassen und zu dokumentieren. Premier Putin urteilt, was sich in Zchinwali ereignet habe, trage "Elemente eines Genozids". Man werde die an der südossetische Zivilbevölkerung verübten Verbrechen vor ein internationales Tribunal bringen. Zchinwali ist aus russischer Sicht das Srebrenica des Kaukasus.
Einiges spricht dafür, dass der georgische Frontalangriff auf Südossetien in Washington gebilligt wurde. Immerhin trainieren amerikanische Ausbilder seit längerem schon die georgischen Streitkräfte. Saakaschwilis Armee erhält inzwischen pro Jahr 30 Millionen Dollar aus dem US-Haushalt. Darüber hinaus schickt die Bush-Administration Hubschrauber, Israel unbemannte Aufklärungsflugzeuge und die Ukraine, die Saakschwili unbedingt als Entsendestaat für eine Friedenstruppe in Abchasien gewinnen will, offenbar Panzer.
Mit der Zusage, die verlorenen Gebiete bald zurückzuholen, war der einstige Justizminister Saakaschwili knapp drei Monate nach der "Rosenrevolution" im Januar 2004 zum Präsidenten gewählt worden. Die sozialen Probleme indes konnte die Lichtgestalt aus Tiflis bis heute nicht lösen. Der Durchschnittslohn in Georgien liegt trotz Wirtschaftsreformen noch immer bei etwa 70 Dollar pro Monat, obwohl das Land nach Kräften Gebühren für den Transit von Öl und Gas kassiert.
Schon einmal vermochten es nationalistische Heißsporne, Georgien an den Rand des Abgrunds zu treiben. Erstmals geschah das ab Mai 1991 unter Swiad Gamsachurdia, dem ersten postsowjetischen Präsidenten in Tiflis, der einen an Selbstherrschaft erinnernden Regierungsstil pflegte und kaum Zweifel ließ, wie sich aus nationaler Emanzipation und der Abkehr vom Kommunismus ein neues autoritäres System formen ließ. Gamsachurdias Nachfolger Eduard Schewardnadse schreckte vor militärischen Lektionen gegen die kleinen Völker in Georgien nicht zurück. Im August 1992 schickte er Panzer nach Suchumi, um die abchasische Unabhängigkeitsbewegung zu züchtigen. Suchumi damals und Zchinwali 2008 - es sind die gleichen Bilder.
Inzwischen scheint eine Anerkennung Abchasiens in Berlin diskutabel
Was jetzt in Südossetien und Abchasien als Konflikt hervorgebricht, hat EU-Europa jahrelang nicht beachtet oder klein geredet. In Brüssel, Berlin oder Paris fand es niemand anstößig, dass sich Saakaschwili auf Pressekonferenzen in Tiflis mit einem Meer blauer EU-Fahnen umgab. Der Wille zur Unabhängigkeit bei Südosseten und Abchasen wurde dagegen belächelt - der Versuch, eigene staatliche Strukturen zu entwickeln, als Banalität abgetan. Seit einigen Monaten erst scheint eine Anerkennung Abchasiens in Berlin überhaupt diskutabel.
Soviel ist sicher, Russland geht aus dem Krieg um Südossetien gestärkt hervor. Die Kritik wegen der Bombardierung von Zielen im georgischen Hinterland gilt als verkraftbarer politischer Flurschaden. Entscheidend bleibt, dass man militärisch handlungsfähig war und geopolitische Statur zeigen konnte.
Von der Sowjetrepublik zur Republik Südossetien
November 1989 - erster Versuch
Der Oberste Sowjet des Südossetischen Autonomen Oblast erklärt die Region Südossetien zur Autonomen Sowjetrepublik, wird jedoch durch georgische Nationalisten in die Schranken gewiesen. Truppen des sowjetischen Innenministeriums stellen den Status quo wieder her - Südossetien bleibt Teil Georgiens, das selbst als Sowjetrepublik aus dem Verbund der UdSSR ausscheiden will.
September 1990 - zweiter Anlauf
Südossetien erklärt sich als Demokratische Sowjetrepublik Südossetien erneut unabhängig, diesmal greifen russische Truppen ein, um die Autonomiebewegung gegen die einrückende georgische Armee zu verteidigen. Am 1. September 1991 wird in Zchinwali die Republik Südossetien ausgerufen.
Juni 1992 - erste Waffenruhe
In Dagomys unterschreiben der russische Präsident Jelzin und der georgische Staatschef Schewardnadse einen Waffenstillstandsvertrag, mit dem auch die Dislozierung eines 1.500 Mann starken Friedenskorps aus Russen, Georgen und Osseten vorgesehen ist.
August 1996 - Status offen
Eduard Schewardnadse und der südossetische Präsident Ludwig Tschibirow unterzeichnen einen Vertrag, der eine vorläufige Autonomie festschreibt, aber festhält, dass es keine Einigung über einen endgültigen Status der betreffenden Region gibt.
Januar 2002 - nach Russland
Eduard Kokoity wird zum neuen Präsidenten Südossetiens gewählt und erklärt, er wolle eine Vereinigung Südossetiens mit dem russischen Nordossetien innerhalb der Russischen Föderation anstreben.
November 2003 - Wende-Herbst
Bei der so genannten Rosen-Revolution wird Eduard Schewardnadse gestürzt und durch Michail Saakaschwili ersetzt, der verspricht, die abtrünnigen Regionen Südossetien, Abchasien und Adscharien in den georgischen Staat zurückholen zu wollen und Georgien in die NATO zu führen.
September 2004 - Drei-Stufen-Plan
Präsident Saakaschwili präsentiert der UN-Vollversammlung einen Drei-Stufen-Plan zur Beilegung der Konflikte mit Südossetien und Abchasien, der von deren Regierungen sofort zurückgewiesen wird. Dennoch kommt es noch im gleichen Jahr nach immer wieder aufflackernden Gefechten zu einem neuen Waffenstillstand zwischen Tiflis und Zchinwali, der auch eine Entmilitarisierung Südossetiens vorsieht, also den Abzug der russischen Truppen. Als im September 2005 georgische Artillerie Zchinwali beschießt, sind alle getroffenen Vereinbarungen hinfällig.
Oktober 2006 - Spionageaffäre
Die Regierung in Tiflis liefert vier der Spionage beschuldigte russische Offiziere, die in Georgien festgenommen wurden, einer Verbindungsmission der OSZE aus. Russland kappt daraufhin sämtliche Verbindungen mit dem Nachbarland. Die Beziehungen erreichen einen Tiefpunkt.
November 2006 - Modell Montenegro
Bei einem Referendum über die endgültige Unabhängigkeit von Georgien stimmen in Südossetien 99 Prozent dafür. Georgien, die USA, die NATO, die EU und der Europarat erkennen das Votum nicht an, obwohl es nach dem Vorbild der Volksabstimmung in Montenegro vom 21. Mai 2006 zur Loslösung von Serbien stattgefunden hat - Russland bewertet das Ergebnis positiv.
Juli 2008 - Vorspiel zum Krieg
Nach der Ermordung des Polizeichefs von Zchinwali am 3. Juli durch georgische Spezialkräfte eskalieren die Spannungen. Georgien versetzt zwei Tage später seine Streitkräfte in erhöhte Gefechtsbereitschaft und zieht an der Demarkationslinie zu Südossetien 12.000 Mann zusammen. Ein Großteil der Bevölkerung der abtrünnigen Region wird nach Nordossetien evakuiert.
"Operation Sanakojew"
Präsident Saakaschwili ernennt im November 2006 Dimitri Sanakojew zum Vorsteher einer pro-georgischen Verwaltung in Südossetien, die zehn Gemeinden nordwestlich von Zchinwali vereint. Sanakojew - ein Überläufer, der einst gegen Georgien gekämpft hat - soll sowohl für das Ausland als auch die südossetische Bevölkerung eine Alternative zur pro-russischen Regierung des Präsidenten Kokoity sein. Hintergrund dieser Aktion ist nicht zuletzt die politische Topografie Südossetiens, denn die Führung in Zchinwali beherrscht kein festgefügtes Territorium, sondern vielmehr ein von georgisch kontrollierten Enklaven durchsetztes Gebiet. So können die georgischen Behörden beispielsweise immer wieder die Wasserzufuhr und Stromversorgung für Zchinwali unterbrechen. Dimitri Sanakojew ist jedoch bis zum Ausbruch der jüngsten Kampfhandlungen nicht in der Lage, eine nennenswerte Anhängerschaft hinter sich zu scharen.
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