Es ist ein regnerischer Sonntag. Der Friedhof in Ljublino hat nur wenige Besucher, einige Familien, die frische Blumen bringen. Es ist düster wie in einem Märchenwald. Auf dem von Industriefirmen umgebenen Areal im Südosten Moskaus wächst alles, wie es wachsen will. Man geht unter alten Bäumen und Kletterpflanzen, die sich über Wege und Gräber wölben. An den von Efeu überwucherten Gräbern leuchten grelle Plastikblumen und Kranzschleifen. Kein Grab gleicht dem anderen. Bemooste Steine mit eingelassenen Photo-Medaillons alter Leute, lächelnde Jugend auf blankem Granit, orthodoxe Kreuze aus hellem Holz und schwarzem Metall - dazu kleine Bänke, die an den Gräbern stehen. Am Rande des Friedhofs wird es plötzlich hell. Der Blick fällt auf einen gepflegten, vom Regen leuchtenden Rasen mit grauen Granitkreuzen in geordneten Reihen. In der Mitte wiegen sich die Zweige einer mächtigen Birke.
In nüchternen Worten gibt eine Messingtafel über die auf diesem Teil des Friedhofs Bestatteten Auskunft: 495 Deutsche, 47 Ungarn, 17 Österreicher, vier Franzosen, drei Rumänen, drei Tschechen, zwei Japaner, ein Litauer. Auf den kleinen Stein-Kreuzen sind in schwarzer Schrift Namen und Daten eingelassen. Die hier liegen, starben zwischen 1945 und 1949. Die meisten waren Mitte 20.
"Sie starben wie die Fliegen", erinnert sich eine blonde Mittsechzigern, die ich am Rand des Areals treffe. Walentina Michalowna, eine ehemalige Ökonomin, hat noch vor Augen, wie sie als Neunjährige mit ihrer Mutter auf dem Weg zum Friedhof die "grauen Kolonnen" der Kriegsgefangenen traf. Sie marschierten in Dreier-Reihen, bewacht von sowjetischen Soldaten, zur Arbeit in die Eisenbahnfabrik oder zum Häuser- und Straßenbau. "Die Männer sahen blass, traurig und krank aus, aber sonst ganz zivilisiert. Sie trugen deutsche Uniformen und mit Bindfäden zusammengebundenes Schuhwerk. Sie taten mir leid."
Walentina Michalowna ist im Bezirk Ljublino aufgewachsen. Jetzt lebt sie im Norden von Moskau. Trotzdem fährt sie regelmäßig zum Friedhof, denn hier liegen ihre Mutter und die Großmutter. An die unmittelbare Nachkriegszeit kann sich die rüstige Dame gut erinnern. "Wenn wir Kinder spielten, trafen wir auf die Deutschen. Wir waren neugierig, und sie zeigten uns Photographien ihrer Familien." Ob sie damals Hass empfunden habe? Sie schaut mich ungläubig an und meint: "Wieso Hass? Sie wurden doch von Hitler hierher geschickt. Das waren doch noch Jungen. Wir Russen sind nicht nachtragend ..." - Auch die Mutter hatte nichts dagegen, dass die kleine Walentina mit den Deutschen sprach. "Wir gaben ihnen Papirosy-Zigaretten, Brot und Zucker, obwohl wir damals selbst auf Karte lebten. 1945/46 hatten wir nur 200 Gramm Brot am Tag und zu Mittag eine Suppe aus Melde, einem Unkraut." Walentina weiß noch, dass sie damals vor dem Einschlafen immer von Specksoße und Kartoffelpüree träumte.
Ihre Eltern kamen aus Tula und dem Kaluschskaja-Gebiet. Wegen der Arbeit in der Eisenbahnfabrik von Ljublino waren sie Mitte der dreißiger Jahre in die Hauptstadt gezogen. Die metallurgische Fabrik, in der Eisenbahn-Fahrgestelle hergestellt wurden, trug den Namen des damaligen Transportministers Kaganowitsch. "Eine Fabrik, die für das ganze Land produzierte. Und ab 1944/45 arbeiteten dort auch kriegsgefangene Deutsche."
Walentinas Vater fiel an der Front. Sie selbst wurde mit der Mutter im ersten Kriegswinter in das damalige Kuibyschew an die Wolga evakuiert. "An die Kriegsgefangenen dort erinnere ich mich mit Schrecken, ihnen ging es viel schlechter als denen, die ich später in Moskau sah. Bei 33 Grad Minus standen sie mit übergeworfenen Decken an der Waschstelle. Viele sind an Hunger und Kälte gestorben." Während wir reden, beginnt es zu regnen. Wir spannen unsere Schirme auf und gehen die aufgeweichten Wege entlang. "Das Misstrauen nach dem Krieg war groß", erzählt Walentina, "die Gräber der Kriegsgefangenen verbarg man hinter einer Umfriedung vor Blicken aus dem russischen Teil des Friedhofs. Aber nachdem 1995 hier alles rekonstruiert worden war, verschwand diese Abgrenzung, vor allem standen die Granitkreuze nun auf Blumenbeeten und es gab diese Metalltafel mit den Namen der Toten.
Jewgeni Kareljew, ein Russlanddeutscher, der den deutschen Sektor seit Ende der achtziger Jahre pflegt, kam zunächst nur zum Grab seiner Tochter im russischen Teil. Doch dann begann er, sich auch um das Areal der Fremden zu kümmern - zunächst ehrenamtlich, später gegen ein kleines Entgelt.
Ja, der 22. Juni werde von ihm noch immer jedes Jahr im Kreis der Familie begangen, man gedenke der Großväter und Urgroßväter, die an der Front geblieben waren. Seine Schwester erzähle vom Krieg: Wie man die Fenster mit Decken verhängte, wie der Boden unter dem Einschlag der Bomben bebte, wie man aus alten Kartoffeln und Unkraut etwas Essbares zubereitete. "Keiner beklagt sich, alle sind stolz, dass sie ihren Teil zum Sieg beitrugen ..." - Ob man sich heute von Deutschland bedroht fühle? "Nein, die Deutschen haben den Krieg zwar verloren, aber ihre Wirtschaft schneller aufgebaut als das Land der Sieger." Von einer Schuld der Deutschen will Jewgeni nichts wissen. "Eine kleine Gruppe hat den Angriff durchgesetzt. Es gab ja im Krieg auch Situationen, in denen sich Russen und Deutsche verbrüdert haben. Nicht alle Deutschen waren für Hitler ... "
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