Orange fühlt sich als Sieger

Erste Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahlen Das Land bleibt gespalten - doch die erwartet heiße Nacht nach der Abstimmung fiel aus

Die zentrale ukrainische Wahlkommission in Kiew gleicht in diesen Tagen einer schwer einnehmbaren Festung. In Erwartung massenhafter Proteste wegen möglicher Wahlfälschungen hatte man schon wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl am 31. Oktober in aller Eile einen zweieinhalb Meter hohen Eisenzaun um das Gebäude errichtet. Überall sind Rollen mit "NATO-Draht" ausgelegt. Im Hof stehen mehrere Wasserwerfer und drei Schützenpanzerwagen akkurat unter Tarnzelten versteckt.

Für die Beobachter der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist der Verlauf des Votums auf jeden Fall ein Rückschritt im Vergleich zu vorangegangenen ukrainischen Wahlen seit 1991. Die Wahlbeteiligung sei zwar hoch gewesen - nach offiziellen Angaben lag sie bei 74 Prozent - doch die Abstimmung selbst habe in vielem europäische Standards unterlaufen, heißt es. Die Verifikateure stoßen sich besonders an der einseitigen Ausrichtung der Medien zugunsten des amtierenden Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch. Bekanntlich möchte Amtsinhaber Leonid Kutschma ihn und nur ihn als Nachfolger sehen.

Nachdem die OSZE ihre Reklamationen kundgetan hatte, sank der Eifer der zentralen Wahlkommission merklich. Nach der Auszählung von 95 Prozent der Wahlzettel verkündete sie - kaum 24 Stunden nach dem Urnengang -, erst einmal eine "technische Pause" einlegen zu müssen und hüllte sich in Schweigen. Nach einem zunächst als inoffiziell verbreiteten Trend, lagen die beiden Galionsfiguren dieser Wahlschlacht nur einige Zehntel Prozent auseinander. Der amtierende Ministerpräsident Viktor Janukowitsch erhielt nach der offiziellen Zählung 40,1 Prozent der Stimmen, der westlich orientierte Ex-Premier Viktor Juschtschenko 39,2 Prozent - folglich wird es am 21. November eine Stichwahl geben müssen.

Die traditionelle Spaltung der Ukraine in einen russischsprachigen Ost- und Südteil und einen stark auf Unabhängigkeit von Moskau bedachten Westteil wurde mit diesen Präsidentschaftswahlen eindrucksvoll bestätigt. Während Janukowitsch in seiner Heimatregion dem ostukrainischen Industriegebiet Donezk 86 Prozent und auf der Urlaubsinsel Krim 69 Prozent der Stimmen bekam, erreichte Juschtschenko im westukrainischen Lwiw (dem einstigen Lemberg) 87 Prozent. Dort gingen zu Wochenbeginn 10.000 seiner Anhänger auf die Straße und verlangten, den Wahlsieg ihres Favoriten bereits für die erste Runde anzuerkennen. In der Hauptstadt Kiew gaben nach den offiziellen Angaben immerhin beachtliche 62 Prozent der Wähler ihre Stimme dem Oppositionskandidaten.

Auf die Kandidaten der Kommunistischen und Sozialistischen Partei, Pjotr Simonenko und Aleksander Moros, entfielen landesweit nur knapp über fünf Prozent. Bis auf die Radikalsozialistin Natalja Vitrenko, die 1,5 Prozent erhielt, bekamen die übrigen 19 Kandidaten nicht mehr als ein Prozent. Beobachter gehen davon aus, dass der Sozialist Moros im Vorfeld der Stichwahl seine Gefolgschaft zur Wahl von Juschtschenko aufruft. KP-Chef Simonenko äußerte sich betont verhalten. In der Vergangenheit hatten die Kommunisten, sobald es innenpolitisch dramatisch zu werden drohte, in der Regel für die "Partei der Macht" gestimmt.

Spurlos verschwunden

Angesichts dessen, was am 1. November an Fernsehbildern aus der Zentralen Wahlkommission übertragen wurden, dürfte kaum jemand in der Ukraine geglaubt haben, dass die Wahlen in jeder Phase einen regulären Verlauf nahmen. Als der Leiter der Kommission per Live-Schaltung seine Kollegen in der zentralukrainischen Stadt Schitomir nach dem Ergebnis fragte, war man dort - 18 Stunden nach Schließung der Wahllokale - noch am Zählen. Geradezu kriminell ging es in Kiew zu. Die Leiter der Wahllokale standen unter erheblichem Druck. Zwei waren in der Nacht auf Montag spurlos verschwunden - mit ihnen die Wahlprotokolle. Im Wahlkampfbüro von Janukowitsch herrschte in der Wahlnacht gedämpfter Optimismus. Beim Stab von Juschtschenko dagegen schlugen die Wellen hoch. Auf der Bühne traten bekannte ukrainische Rock-Stars auf. Dann verlas der Oppositionskandidat mit sonorer Stimme das Ergebnis der eigenen Zählungen. "Juschtschenko 50,34 Prozent - Janukowitsch 27,0 Prozent." Die Anhänger des ehemaligen Ministerpräsidenten, der wegen einer vermuteten Vergiftung fünf Wochen vom Wahlkampf suspendiert blieb, johlten und schwenken begeistert ihre orangefarbenen Fähnchen, doch die erwartete heiße Nacht nach der Wahl fand trotzdem nicht statt. Eine von den Oppositionsparteien angemeldete Demonstration vor dem Gebäude der Zentralen Wahlkommission - man wollte eine halbe Million Menschen sammeln - wurde vorsorglich abgesagt. Die Umgebung Juschtschenkos fürchtete den Einsatz von bezahlten Schlägern, ausgesandt von der "Partei der Macht".


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