„Poroschenko ist unser Robespierre“

Interview Der ukrainische Politiker Sergej Kiritschuk über die Befreiungsschläge in Kiew gegen Linke und Ultranationalisten
Ausgabe 47/2015
An hoch motivierten Polizisten fehlt es in Kiew offenbar nicht
An hoch motivierten Polizisten fehlt es in Kiew offenbar nicht

Foto: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images

der Freitag: Es gab jüngst Hausdurchsuchungen bei drei führenden Mitgliedern der Rechtspartei Swoboda. Man verdächtigt sie, in die Beschießung von Demonstranten auf dem Maidan verwickelt zu sein. Sie sollen am 20. Februar 2014 aus dem elften Stock des Hotels „Ukraina“ auf Aktivisten gefeuert haben. Warum ermittelt die Staatsanwaltschaft plötzlich gegen Leute, die beim Sturz des Präsidenten Janukowytsch am 22. Februar 2014 eine Schlüsselrolle spielten?

Sergej Kiritschuk: Diese Radikalen werden jetzt nicht mehr gebraucht. Man will sich von ihnen auch deshalb befreien, weil sie den ukrainischen Präsidenten scharf angreifen. Sie erlauben sich Verlautbarungen, wie sie in keinem anderen Land möglich wären.

Zum Beispiel?

Slogans wie: „Wir ziehen nach Kiew und errichten dort eine patriotische Macht!“ Oder: „Wir ziehen alle Bataillone von der Front ab!“ Das und noch viel mehr steht auf der Webseite des Rechten Sektors.

Es gibt auch Verhöre und Festnahmen anderer bekannter Politiker. Ebenfalls Zeichen einer Flurbereinigung?

Die Verhaftung von Gennadi Korban, des Führers der rechtsnationalen Ukrop-Partei, war das auf jeden Fall. Schon weil Korban ein Freund des Oligarchen Igor Kolomoiski und damit eines Poroschenko-Gegners ist. Man wirft Korban die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Andererseits verdichten sich die Anzeichen, dass auch Vertreter des russlandfreundlichen Oppositionsblocks auf der Liste stehen. Poroschenko ist unser Robespierre. Erst lässt er die Rechten und dann die Linken ausschalten. Er will alle Radikalen kaltstellen und seine Macht festigen. Ich glaube, dass ihn die USA dabei unterstützen.

Steht er so unter Druck?

Er muss die Radikalen in die Schranken weisen und einen Tätigkeitsnachweis erbringen, weil die Wirtschaft kollabiert, die Strom- und Gaspreise steigen und es für die Armen immer schwerer wird, mit einem Existenzminimum zu überleben. Nehmen Sie meine Eltern, die leben derzeit von umgerechnet 275 Euro im Monat. Mein Vater ist Ingenieur. Er konzipiert Systeme für den Schutz der Stromversorgung, ist also durchaus qualifiziert. Dennoch ist sein Gehalt in nur zwei Jahren von 800 auf 200 Euro gesunken. Meine Mutter bekam einst eine Pension von 200 Euro, jetzt noch 75.

Zur Person

Sergej Kiritschuk (33) ist derzeit Koordinator der ukrainischen Linksorganisation Borotba. Er wuchs in Kiew auf, arbeitete jahrelang beim Fernsehkanal Gamma-TV und verließ im März 2014 die ukrainische Hauptstadt – nach Todesdrohungen – in Richtung Charkiw, wo er neben seiner politischen Arbeit für das Internet- Portal Liva.com.ua schreibt

Wie gehen Ihre Eltern mit diesem Aderlass um?

Sehr diszipliniert, indem sie brav ihre Gas- und Stromrechnung bezahlen und selbst hungern. Ich weiß nicht, woher diese Demut kommt. Das ist wahrscheinlich die sowjetische Mentalität, gegen die unsere Nationalisten jetzt kämpfen.

Wohin driftet das Land unter diesen Umständen?

Entweder wird es eine prowestliche Diktatur geben, die vom Versprechen auf europäische Werte und eine Integration in die EU zehrt. Oder es kommt zu einer Diktatur verrückter Ultranationalisten von Swoboda bis zur faschistoiden Radikalen Partei eines Oleh Ljaschko. Andere Optionen sehe ich nicht.

Aber zu guter Letzt setzt sich Petro Poroschenko durch.

Möglich, er wird jetzt von vielen unterstützt, die keine nationalistische Diktatur wollen. Nachdem die Rechten am 31. August vor dem Parlament eine Granate auf die Polizei warfen und vier Menschen töteten, haben viele Ukrainer gesagt: Das reicht jetzt. Wir wollen hier keinen Terror gegen den Staat. Dabei hat es sicher eine Rolle gespielt, dass es ein Rückkehrer von der Front war, der die Granate geworfen hatte.

Es gibt einfach im Augenblick enorme Probleme mit demobilisierten Kämpfern, die keine regulären Soldaten waren, sondern Freiwillige. Sie haben Pulverdampf gerochen, Blut gesehen und betrachten sich als Helden. Jetzt kehren sie zurück und finden keinen Arbeitsplatz. Sie verlangen nicht nur einen Job, sondern zusätzlich soziale Vergünstigungen. Und die Regierung sagt: Was wollt ihr? Wir haben euch nicht an die Front geschickt. Kein Wunder, wenn sich die Leute wie Müll behandelt fühlen. Ich bin gewiss kein Freund von Poroschenko, aber wenn er jetzt kein autoritärer Führer ist, dann ist die Ukraine in Gefahr. Nur er und sein Clan können die Radikalisierten stoppen, indem sie ihnen die Anführer nehmen.

Was heißt das für den russland-freundlichen Oppositionsblock?

Der hat sich zunächst einmal bei den gerade abgehaltenen Kommunalwahlen behauptet, sollte sich aber nicht zu sicher fühlen. Gennadi Kernes, der Bürgermeister von Charkiw, einer Millionenstadt, wurde mit 60 Prozent wiedergewählt. Keres erklärte nach dem Votum, man müsse die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland wiederherstellen, ansonsten gebe es einen Kollaps und keine Zukunft. Er hat sich damit klar gegen den Mainstream gestellt. In Odessa erlebte Gouverneur Michail Saakaschwili ein Waterloo, weil sein Kandidat durchfiel und sich dort ebenfalls der bisherige Amtsinhaber Gennadi Truchanow durchsetzte, der einst zur Partei der Regionen gehörte.

Viele meinen, an dieser inneren Zerrissenheit seien sowohl die USA als auch Russland schuld.

Ich bin der Meinung, dass man den Ukraine-Konflikt nicht nur aus geopolitischer Sicht betrachten sollte. Die inneren Widersprüche kommen aus diesem Land selbst.

Inwiefern?

Die heutigen Ereignisse haben sich schon Anfang der 90er Jahre abgezeichnet. In dieser Zeit breitete sich ein archaischer Kapitalismus aus und sorgte für einen Schock. Es war ein unglaubliches Drama! Das alles hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was man den Leuten nach dem Ende der Sowjetunion versprochen hatte. In der Folge lag so etwas wie eine rote Revanche in der Luft.

Es gab seinerzeit Leute, die sagten, lasst uns zum Sozialismus zurückkehren. Pjotr Simonenko, damals KP-Chef, hätte die Präsidentenwahl 1998 leicht gewinnen können. In dieser Situation errichteten die Oligarchen, die sich Anfang der 90er das Staatseigentum gesichert hatten, einen ideologischen Schutzschirm, um die rote Revanche zu stoppen. Dieser Schirm bestand aus betäubender nationalistischer Ideologie.

Wie lief das genau?

Ich ging noch zur Schule in diesen Jahren und habe erlebt, wie Stepan Bandera, ein Nazikollaborateur aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, und die Ukrainische Aufstandsarmee UPA heroisiert wurden. Dabei bestanden diese neuen Nationalisten aus zwei Gruppen. Es gab Konformisten, die früher Ideologen der KP und nun gewendet waren, und junge Ukrainer, die in diesem ideologischen Treibhaus aufwuchsen. Hinzu kam: Wenn die Menschen verarmen, ist die nationale Identität das Wichtigste, was ihnen noch bleibt.

Lassen Sie mich auf Petro Poroschenko zurückkommen. Kann sich die russische Führung erst mal zurücklehnen und warten, wie es in Kiew ausgeht?

Kann sie nicht. Kann sie nie. Es gibt im eigenen Land eine große soziale Ungerechtigkeit und zu viel Korruption.

Ist in Russland ein Maidan denkbar?

Davon bin ich überzeugt.

Gibt es dafür Anzeichen?

Es herrscht eine Ruhe vor dem Sturm. Wenn es keinen Dialog mit der Opposition gibt, bricht das irgendwann auf. Wenn Putin nur zu zehn Prozent eine Politik verfolgen würde, wie sie einst Hugo Chávez in Venezuela betrieb, indem er Öl-Dollars für den Bau von Häusern, für Bildung und Medizin ausgab, wäre es anders. Aber leider fließt das Geld in die Taschen der Oligarchen, und die russische Bevölkerung hat das Nachsehen.

Nach Umfragen ist die Unterstützung für Putin so hoch wie nie.

Das ist eine gefährliche Droge, denn viele russische Oligarchen wollen sich mit dem Westen versöhnen und die Konfrontation beenden. Sie träumen davon, von der globalen Geschäftswelt wieder hofiert zu werden und sind deshalb auch dafür, dass es auf der Krim ein zweites Referendum über den Beitritt zur Russischen Föderation gibt. Nur wird das die öffentliche Meinung in Russland nicht zulassen – sie ist einfach zu aufgeheizt. Die Führung in Moskau ist Gefangener dieser Stimmung. Der Kreml wäre wohl bereit, ein zweites Krim-Votum anzusetzen, aber er kann nicht. Die Bevölkerung würde das nicht verstehen.

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