Anne Will's wissen

Schulz bei Anne Will | Fast wär es ähnlich schief gelaufen wie bei Auftritten von Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Anne Will und eine Kassiererin aus Essen lassen den Neuen alt aussehen.

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Oh, oh - das hätte auch bös' in die Hose gehen können. Martin Schulz, der frisch gekürte SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat auf Promo-Tour durch die Talkszene. Da sitzt er nun, gut gelaunt und vorbereitet, die "Martin, Martin"-Sprechchöre im Willy-Brandt-Haus noch im Ohr, und setzt darauf, dass Talkmasterin Anne Will ihm schon elegant die Bälle und Stichworte zuwürfe für eine perfekte One-Man-Show. Die will aber Fragen beantwortet sehen, die Martin Schulz, dem innenpolitisch unbeschriebenen Blatt, nicht nur ein parteipolitisch vermarktbares Profil verleihen, sondern zeigen, für welche Positionen Gabriels Nachfolger im Parteivorsitz und (fast un-)möglicher SPD-Kanzler steht. Ja, und wofür steht er denn, der gefeierte Rückläufer aus Brüssel? Wie will er z.B. enttäuschte SPD-Anhänger überzeugen, seiner Partei wieder zu alter Stärke zu verhelfen? Welche Koalitionen scheiden aus, welche bieten sich an? Was unterscheidet sein Programm und seinen persönlichen Stil von dem des unbeliebten Vorgängers ("mein Freund Sigmar") einer- und dem der kühlen Kanzlerin andererseits?

Zunächst läuft auch alles wie gewünscht. Solo für O.N.K.E.L Schulz, den mit ständigen Ovulationen - T'Schuldigung, natürlich standing Ovations - frisch inaugurierten Staats- und Strahlemann, den einst fürsorglichen Bürgermeister der rheinischen Kleinstadt Würselen, der die Sorgen und Nöte seiner Mitbürger aus 11 harten Jahren Kommunalpolitik kennt wie kein Zweiter und diese zur Grundlage seines Kampfes für soziale Gerechtigkeit machen will, den nachmaligen Spitzen-Europäer, der sich auskennt auf dem internationalen Parkett und trotzdem auch mal ganz emotional und für die gute Sache auf den Tisch haut.

Entschlossenheit und klare Kante will er ausstrahlen. In der Gesellschaft sei was faul. Wie lange schon? Und wer trägt zumindest eine deutliche Mitschuld? Schulz offenbar nicht. Denn sein Brustton der Überzeugung lässt keinerlei Zweifel aufkommen, dafür aber den Applaus von den Rängen aufbranden. Boni runter für die Nieten in Nadelstreifen - Löhne rauf für die hart Arbeitenden! Wieder ein Volltreffer beim Publikum. Applaus, Applaus. Steuergerechtigkeit und soziale Sicherheit, yeah! Und mit den Rechtspopulisten niemals! Die Stimmung klettert auf Wies'n-Niveau.

Doch plötzlich die Konfrontation mit der Stimmung der (einstigen) Stammwählerschaft im Ruhrpott. Da sitzt die Gewerkschafterin Maurike Maaßen aus Essen im Publikum, eine von jenen, die Martin, der Volkstümliche, der das Abi nicht schaffte und ein Alkoholproblem hatte, nicht zum ersten Mal als Kronzeuginnen für die Ungerechtigkeiten dieser Welt bemüht: Die Supermarktkassiererin, die wegen kleinster Verfehlungen den Job verliert, während Konzernmanager, die durch Fehlentscheidungen ein Milliardenunternehmen ins Wanken bringen... Ach, ihr eingängigen Applaus-Bringer, wie schnell nutzt ihr euch ab! Und zu allem Überfluss noch ein Einspieler mit Statements enttäuschter SPD-Wähler.

Schulz muss jetzt strampeln, soll Verständnis für das Volk zeigen, ohne z.B. die Fehler der Schröder-Ära einzugestehen oder Parteifreunde aus der GroKo zu beschädigen. Schwierig, schwierig. Denn irgendwie hat er gar nicht verstanden, warum die Abgehängten aus dem Pott der einstigen Partei der kleinen Leute gegenüber so nachtragend sind. Mobilisierbarkeit gegen die Gerechtigkeitslücke setzt beim Wahlvolk eben eine Gedächtnislücke voraus.

"Die letzten Sektkorken", sagt da einer im Einspielfilm, "die wir bei der Wahl von Schröder und Fischer haben knallen lassen, sind uns im Hals stecken geblieben!" Schulz kontert mit sozialen Errungenschaften aus GroKo-Zeiten, die ja alle noch üppiger ausgefallen wären, hätte man sich nicht mit CDU und CSU auf Kompromisse einigen müssen. Zu einer solchen Fressgemeinschaft war man zwar nicht gezwungen, doch brachte die wenigstens die Parteioberen an die Fleischtöpfe oder die rettenden Raufen der Winterfütterung. Opposition ist eben Mist, wie der Münte aus dem Sauerland es den Parteifreunden eingeimpft hat. Der entsendet nach dem eigenen Rückzug aus dem Politikcircus jetzt sogar eine Jugendvertreterin aus der Familie ins Parlament. Clever, clever.

Bei konkreten Fragen nach Rot-Rot-Grün, den Steuern, der angemessenen Höhe des Mindestlohns usw. möchte sich St. Martin alias Rémy Martin, wie der politische Gegner in Anknüpfung an die Adenauerzeit (Willy Weinbrandt) bereits gehässig scherzt, nicht festlegen. Lieber erinnert er an seinen tugendsamen Namenspatron, der einer frommen Legende zufolge im Winter seinen Mantel mit einem Bettler teilte (und dann allerdings - typisch SPD - auf einem Schimmel davon trabte). Was aus dem Bettler mit dem halben Mantel wurde, ist dagegen nicht überliefert. Heute würde er wohl AfD wählen.

Und dann verheddert St. Martin sich erwartungsgemäß in die inneren Widersprüche seiner Partei, die bei der letzten Wahl auch jenseits von CDU/CSU eine knappe Mehrheit zustande gebracht hätte, die aber die Stimmen der Mittelschichtler nicht aufs Spiel setzen durfte, die sich entgegen der eigenen Interessenlage krampfhaft an den "Bessergestellten" orientieren, weil sie eine Heidenangst haben, demnächst auch als Verlierer der Globalisierung und der Digitalisierung dazustehen. Und nun muss man leider auch noch die Stimmen derer einsammeln, die nichts mehr zu verlieren haben. Denn nur mit ihrer Hilfe könnte man wieder stärkste Partei werden und den Kanzler stellen, wie Schulz das etwas zu selbstbewusst und zu laut als seine Wahlziele propagiert.

Auge in Auge mit der Repräsentantin der Absteiger von der Ruhr zeigt Schulz plötzlich Nerven. Da verbittet er sich nervös Unterbrechungen seitens der Moderatorin, obwohl die gar keine Anstalten macht, ihm in die Parade zu fahren. Und dann bittet, nein fleht er fast um einen Vertrauensvorschuss: Erst eure Stimmen, dann können wir für euch Politik machen! Hat er wirklich zugehört? Gerade wurde ihm doch erklärt, warum das im Pott nicht mehr zieht. Schlechte Erfahrungen mit den sozialen Aufsteigern (Jahresgehalt von Schulz als Präsident des EU-Parlaments = ca. 325.000 Euro, ungefähr zwei Drittel davon steuerfrei) aus einer Partei , die sich einst an dem Erfolgsmodell von New Labor orientierte, die kleinen Leute vergaß und heute wie ein Konzern geführt wird. Hartz IV- Reformen, Rentenkürzungen und Deregulierung des Arbeitsmarkts und des Bankensektors schon vergessen? Oder den Riester-Beschiss, wo die Zusatzrente später von den Sozialleistungen abgezogen wird? Oder die unsägliche Energiewende, diese Gelddruckmaschine für Subventionsgewinnler und Grundbesitzer, die von den kleinen Stromkunden bezahlt wird, während Großverbraucher aus der Industrie satte Rabatte erhalten? Oder die dilettantische Mietpreisbremse, die den Wohnungsbau bremst, nicht aber die Gentrifizierung in den Städten? Etliche Mienen im Publikum werden nun eisig. Die, die Schulz eben noch frenetisch applaudierten, schauen jetzt verunsichert in die Runde.

Zum Schluss will die Talkmasterin von Schulz noch hören, was er denn besser könne als sein Vorgänger oder die sozialdemokratisierte Angela Merkel. "Wir haben es schwer miteinander!" hat der Kandidat sich kurz zuvor über Wills Fragestil beschwert. Und Will macht es Schulz mit ehrlicher Neugier und journalistischer Beharrlichkeit tatsächlich auch nicht so leicht wie erwartet. Nicht nur Will will's wissen. Der Zuschauer und Wähler auch. Und Schulz wird's schwerer haben, als die SPD es im derzeitigen Freudentaumel anzunehmen scheint.

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