Kurt Drawert war einer der unnachgiebigsten Autoren im Nachwende-Umgang mit der DDR. Spiegelland. Ein deutscher Monolog (1992), Haus ohne Menschen. Zeitmitschriften (1993) oder Privateigentum (1989) lauteten seine Titel, und alle insistierten sie darauf, zur Sprache zu bringen, was verdrängt oder richtig zu benennen, was in voreiliger Versöhnung harmonisiert wurde. Das ließ ihn gewichtig, zugleich anstrengend und pedantisch erscheinen, und obgleich er mit zahlreichen Literaturpreisen behängt wurde und kaum jemand ein schlechtes Wort über ihn verliert, ist es, als hätten ihn diese Ehren mehr aus dem literarischen Diskurs heraus- als hineingeleitet. Jetzt, eine Generation nach der deutschen Einheit, kehrt er noch einmal zu seinen Anfängen zurück.
Drawerts Programm? „Literarisch schreiben heißt immer auch, die Grenzen des Wissens zu verschieben und sich den Dunkelheiten zuzuwenden, die das Leben umgibt.“ So steht es im neuen Buch, das sich ein Roman nennt, aber mehr die Autoethnographie im Mantel des „Stadtschreibers“, des berufsmäßigen Fremden, in der früheren Heimatstadt ist. Der literarische Topos des Ganges zu den Müttern wird hier, vielleicht etwas ungelenk, aufgerufen: Die Mutter, eigensinnig und schon etwas vergesslich, fungiert als Erzählanlass oder auch als das Ufer, an dem die Welle der Erinnerung sich bricht. Bei Muttern wird Kuchen gegessen und Kaffee getrunken, ihr „psychosomatischer Protestantismus“ hat DDR und Wendezeit gut überstanden. Aber eigentlich geht es um die Geschichte des nunmehr toten Vaters – man könnte auch sagen, anhand eines Genderstereotyps werde eine geschichtliche Wahrheit reproduziert – der aus einer Nazifamilie stammend als sowjettreuer Kriminalbeamter überkompensierte, wobei die Überkompensation ihre Ursache nur umso deutlicher ins Bewusstsein hob.
Die Vatergeschichte hatte Kurt Drawert kurz nach der Wende in Spiegelland erzählt, in sie floss all der Schmerz des Sohnes, dem sein Vater nicht nahe sein konnte, weil er sich selbst verloren hatte. Und diese Geschichte sollte zugleich eine Strukturanalogie zur DDR-Geschichte sein. Im neuen Buch wird sie noch einmal durchbuchstabiert, aber nun, um den Nachwende-Osten zu erhellen: in seiner teilweise gewalttätigen Suche nach „Identität“, nach seiner Wahrheit auch in der Geschichte.
Und hier kommt das Dresden des Jahres 2018 ins Spiel. Eine Stadt edler Fassaden, wirtschaftlich prosperierend, uneins mit sich selbst. Und immerzu im Hochgefühl der eigenen Bedeutsamkeit, gesteigert durch frühere Marginalisierung (in der DDR sprach man vom „Tal der Ahnungslosen“). Pegida-Fahnenträger ziehen durch die Straßen und verlangen die Abschaffung der „Merkel-Diktatur“. Für das Erzähler-Ich artikuliert sich hier ein versäumter Vatermord: „Pegida kommt mir gelegentlich vor wie eine Gesellschaft von Kindern, die ihren Vater nicht kennt. Irgendwer muss nachträglich getötet werden und den Vater ersetzen, der unkenntlich blieb und überlebte, als das System zusammenbrach und das Land sich in ein anderes verlor.“ Eine durch untergründigen Selbsthass zusammengehaltene Gemeinschaft also, der die Erfahrung einer tatsächlichen Befreiung fehlt.
Dresden: Die zweite Zeit ist so gesehen die Fortsetzung von Spiegelland, es behauptet die Kontinuität deutscher Geschichte als einer Kette der Verhängnisse. Der Text ist aufmerksam auch für die Gewalt, die eine solche Engführung von persönlicher und politischer Geschichte erheischt: „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich meinen Vater überhaupt meinte, als ich ihn Satz für Satz und Seite für Seite zu töten begann, oder nicht doch nur ein System“. Aus diesem Grund holt die Fortsetzung die Zärtlichkeit nach, die aus dem Mangel kommt, die nur die Person stillen könnte, von der man sich lossagte. Es gibt berückende Erinnerungen an den Vater, der den Sohn in Rom besucht und mit ihm eine Vesuvexkursion unternimmt, der seine Geschichte aufschreibt um sich gegen die Verschriftlichungen des Sohnes zu behaupten. Aber der Sohn ist ein Schriftsteller geworden, nicht um eine Ungerechtigkeit zurechtzurücken, sondern um die Negation zur Sprache zu bringen. In dem Sinn wirkt das Buch geradezu christlich: eine Poetik der Niederlage, die befreien könnte, wenn es ihr gelänge, der Rachsucht abzuschwören.
Die zweite Zeit: das meint die Wiederkehr an einen Ort, mit dem die erste verknüpft ist, aber ist doch fern von jeglicher Suche nach der „Verlorenen Zeit“. Im Fall einer unglücklichen Kindheit muss diese nicht evoziert werden, sie ruft sich überall selbst hervor. Nein, die zweite Zeit meint den Erwachsenen, der auf den „angry young man“ blickt, wie der ihm ähnlich wird und doch, wie bei jedem Blick, fremder. Es meint die einsetzende Gebrechlichkeit in der zweiten Lebenshälfte, und die Einsicht, dass man dem ähnelt, was man von sich zu stoßen suchte. Das lernt man aus Rembrandts Selbstporträts in der Dresdner Gemäldegalerie: „[E]in auf sich selbst gerichteter Geist, der aus der Höhe der Unbestechlichkeit auf die sterbliche Hülle herabsieht wie auf ein dauerndes Fragment.“
Trost und Anspruch der Kunst also (tröstend, weil sie in Anspruch nimmt, in Anspruch nehmend, weil sie tröstet). Im Buch muss sie es mit Theoriediskussionen (Foucault, Lacan) ebenso aufnehmen wie mit Alltagsbanalitäten. Mit einer Kaskade an Parkknöllchen, einer ausgerenkten Schulter, mit übermütigen Orthopäden. Je mehr die Kunst von diesen Umständen gebrochen wird, desto mehr soll sie sie durchstrahlen. Aber das gelingt nicht immer. Das Rettende der Kunst und ihr Unrettbares – gemeinsam sitzen sie fest im Barockwrack an der Elbe.
Dresden – Die zweite Zeit Kurt Drawert C.H. Beck, 294 S., 22 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.