Ab nach Hause

Pflegekasse Im April will Ulla Schmidt eine Reform der Pflegeversicherungen vorlegen - und wieder einmal triumphieren Sanierungsmaßnahmen über qualitative Änderungen

Wer einmal in die Lage kam, für sich selbst oder einen Angehörigen Leistungen aus der Gesetzlichen Pflegeversicherung zu beantragen, weiß ein vielstimmiges Lied über Antragschinesisch, lange Bearbeitungszeiten und insbesondere die eigenwilligen Begutachtungsrichtlinien der Medizinischen Dienste, die über die Pflegebedürftigkeit zu befinden haben, anzustimmen. Pflege heißt in dieser Republik nämlich noch immer in erster Linie, dass Personen sauber gehalten werden. Können alte Menschen sich nicht mehr selbst waschen, ankleiden oder alleine zur Toilette gehen, haben sie gute Chancen, in die erste oder gar zweite Pflegestufe zu kommen. Viel schwerer gelingt das denen, die sich in ihrem häuslichen Umfeld zwar noch zurechtfinden und ihre persönliche Hygiene verrichten können, denen es jedoch, etwa weil sie seh- oder gehbehindert sind, nicht mehr möglich ist, einzukaufen, zu kochen oder ihre Kleidung in Stand zu halten. Einmal ganz abgesehen von den unrealistischen Zeitansätzen, die das Pflegegesetz für die einzelnen Tätigkeiten veranschlagt.

Doch in der für den kommenden April geplanten Reform der Pflegeversicherung geht es kaum um Pflegeinhalte oder qualitative Verbesserungen der Pflege, sieht man einmal davon ab, dass - längst fällig - endlich auch die über 100.000 Demenzkranken von den Leistungen profitieren sollen. Es geht auch nicht um die häufig dramatische Situation in den Pflegeheimen oder um den Mangel von und die miserable Bezahlung der professionellen Pflegekräfte. Wie schon beim Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist auch bei dieser Reform der Pflegeversicherung abzusehen, dass sie rein finanzpolitischen Prämissen folgt. Demografische Entwicklung und erhöhte Lebenserwartung, so heißt es unisono, werden in wenigen Jahren zum Kollaps des bisherigen Systems führen. 2010, rechnen Statistiker vor, wird es in Deutschland 21 Millionen Menschen geben, die über 60 Jahre sind, 2050 rechnet man gar mit sechs Millionen Pflegefällen (derzeit empfangen ca. 1,9 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegekasse).

So kamen zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichtes gerade zur rechten Zeit. Die bereits aus dem Jahre 2002 stammende, sozialpolitisch durchaus nachvollziehbare Entscheidung, Familien mit Kindern vom Pflegebeitrag zu entlasten, hat man im Sozialministerium einfach verdreht und interpretiert den Ungleichheitsauftrag in der Weise, dass man allen, die keine Kinder (mehr) erziehen, einen zusätzlichen Obolus für die Pflege abverlangt (geplant sind derzeit 2,50 Euro). Die Absurdität dieser Maßnahme ist kaum überbietbar, weil damit auch Eltern, die zwar Kinder erzogen haben, die nun aber erwachsen sind, belastet werden.

Die zweite neuere Entscheidung betrifft die Unterhaltspflicht der Kinder gegenüber ihren pflegebedürftigen Eltern. Seitdem innerhalb der Bündnisgrünen (aber nicht nur dort) die populistische Parole von der "Erbenschutzversicherung" kursiert, scheint die Vorstellung zu herrschen, die Vermögen der alten Leute würde zu Lasten von Sozialkassen und Staat für die künftigen Nutznießer gesichert werden. Im Einzelfall mag das sogar zutreffen; doch die Unterhaltspflicht bezieht sich nicht auf die Vermögen der alten Leute, sondern auf das Einkommen der Kinder. Sie und sogar deren Ehepartner sollen künftig stärker an den Heimkosten beteiligt werden.

Dieser Vorstoß ist auch deshalb relevant, weil Sozialministerin Schmidt plant, die Pflegesätze der stationären und häuslichen Pflege anzugleichen. Diese soll, je nach Pflegestufe, dann mit 500, 1000 bzw. 1.500 Euro/Monat (bislang siehe Kasten) vergütet werden und die häusliche Pflege aufwerten. Begründet wird dies mit dem Wunsch der alten Leute, lieber von ihren Angehörigen als im Heim versorgt zu werden. Ein willkommener Nebeneffekt ist, dass die häusliche Pflege für die öffentlichen Kassen bei weitem billiger ist als die stationäre. Dort könnte sich allerdings, wenn Rente und Leistungen aus der Pflegekasse für den Heimplatz nicht ausreichen, schnell eine Deckungslücke auftun, die entweder von den Kommunen oder eben von den Kindern und Schwiegerkindern gestopft werden müsste. Dem Geist der Pflegeversicherung widerspricht diese Absicht allemal: Denn sie sollte die alten, pflegebedürftigen Menschen gerade unabhängiger machen.

Das künftige Szenario könnte sich also auf folgende Alternative konzentrieren: Wenn sich Familien nicht auf die wahrlich nicht generösen Regelsätze nach der Düsseldorfer Tabelle (der Selbstbehalt beträgt in der Regel 1.250 Euro, darin sind 440 Euro Miete veranschlagt) drücken lassen wollen, könnten sie sich veranlasst sehen, ihre Angehörigen zuhause zu pflegen. Diese Aufgabe wird zweifellos vornehmlich den Frauen zufallen. Die Familienforscherin Gisela Erler hat kürzlich auf den paradoxen Zielkonflikt dieser Situation aufmerksam gemacht: Einerseits werden Frauen - sei es aus konjunkturellen, rentenpolitischen oder emanzipatorischen Gründen - aufgefordert, möglichst lange berufstätig zu sein, andererseits werden sie erpresst, für ihre alten Angehörigen zu sorgen, zusätzlich zur ohnedies anfallenden Familienarbeit. Und für die Frauen, die bereits das Rentenalter erreicht haben, ist Altenpflege eine schwere körperliche Belastung, ganz abgesehen von der seelischen Bürde, die der Umgang mit altersverwirrten oder betreuungsbedürftigen Menschen bedeutet.

Die alte Formel, dass sich der Entwicklungstand einer Gesellschaft am Umgang mit den Frauen messen lasse, könnte in den nächsten Jahrzehnten darauf ausgeweitet werden: mit den Kindern und den alten, pflegebedürftigen Menschen. Eine auf rigides Zeit- und Finanzmanagement orientierte Gesellschaft tut sich extrem schwer damit, noch nicht oder nicht mehr einsatzfähgies und verwertbares "Humankapital" zu "verwalten", zumal diese Aufgabe gesellschaftlich nur wenig Ansehen bereithält, egal, wie "intelligent" sie gelöst wird.

In ihrem Zukunftsroman Oryx und Crake entwirft die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood das schaurige Bild einer "Menschenwirtschaft", in der Kindheit und Jugend auf eine Kurzstrecke gezoomt wird und 30-Jährige am Zenit ihrer Leistungsfähigkeit tot umfallen. Diese negative Utopie allerdings ist in diesen zivilisatorischen Breiten, wo Lebensverlängerung um jeden Preis und Sterbehilfediskussionen eine makabre Allianz eingehen, vorerst kaum denkbar.


Derzeitige Kostenübernahme der Pflegekasse
bis zu ... Euro/Monat

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Pflegestufe IPflegestufe IIPflegestufe III

Stationäre Pflege1.0231.2791.432

Häusliche Pflege durch Fachpersonal3489211.432

Pflegegeld für häusliche Pflege durch Angehörige ect.205410665

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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