Wir schreiben das Jahr der Mathematik und werden tagtäglich daran erinnert, dass unser Leben ohne deren Anwendungen kaum mehr denkbar ist. Doch was den reinen Geist, der in der Welt der Formeln und Zahlen zuhause ist, beflügeln mag, kommt in den Niederungen des Alltags vergleichsweise schnöde und um den Nimbus zweckfreier Hirnakrobatik gebracht an, insbesondere dort, wo das ökonomische Prinzip als Sachwalterin auftritt. Denn wo mit einem gegebenen Einsatz der höchstmögliche Ertrag erzielt respektive ein erwünschter Nutzen möglichst billig eingekauft werden soll, sind vor allem Grenznutzenrechnungen gefragt. Das lässt sich auf der Ebene der betriebswirtschaftlichen Kostenkalkulation noch nachvollziehen und ist hilfreich, wenn wir den Stromrechner herausfinden lassen, wann ein Tarif besonders günstig ist. Voraussetzung ist - das lernen schon Kinder -, dass nicht Äpfel mit Birnen, sondern eben nur Vergleichbares verrechnet wird.
Vor dem Äpfel-Birnen-Problem stehen seit geraumer Zeit all jene Experten, denen aufgetragen ist, das Gesundheitssystem effektiver und wirtschaftlicher zu gestalten. Gesundheit ist ein so hohes Gut, dass es sich per se zu verbieten scheint, es einem Vergleichskalkül zu unterwerfen. Dennoch war es Auftrag der letzten Gesundheits"reformen", den Leistungskatalog künftig nicht nur von fragwürdigen und möglicherweise ineffektiven Arzneimittel und Maßnahmen zu säubern und freizuhalten, sondern auch den medizinischen Nutzen einer Behandlung abzuwägen gegenüber den Kosten, die sie verursacht.
Damit der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) darüber entscheiden kann, ob etwa Akupunktur eine sinnvolle, in der Praxis bewährte Behandlung ist, benötigt er valide Bewertungen, die von dem eigens dafür gegründeten Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) erstellt werden. In die Diskussion geriet das unter Peter Sawickis Leitung stehende Institut unter anderem wegen eines Streits um ein gut eingeführtes Diabetes-Präparat, das aus dem Katalog fallen sollte. In diesem Fall kam die Festbetragsregelung zum Zuge, nach der für bestimmte Wirkstoffgruppen ein von den Kassen zu erstattender Preis festgesetzt wird. Kostet ein Medikament mehr, muss der Patient die Differenz aus eigener Tasche bezahlen.
Eine seit 1. April 2007 in Kraft getretenes weiteres Instrument zur Kostendeckelung sind Höchstbeträge. Sie kommen dann zum Einsatz, wenn sich etwa ein Medikament nicht in eine Festbetragsgruppe aufnehmen lässt, weil es gegenüber anderen Therapien medizinische Vorteile zu bringen verspricht. Das IQWiG ist nun beauftragt, nicht nur den Nutzen einer Therapie zu überprüfen, sondern den dabei festgestellten Zusatznutzen in Cent und Euro auszudrücken.
Das Problem besteht nun darin, wie ein therapeutischer Nutzen, der sich für den einzelnen Patienten zusammensetzt aus Gewinn an Lebensjahren und Lebensqualität, Beschwerdefreiheit oder -minderung, Verringerung von Nebenwirkungen, Entlastung der Angehörigen und vieles mehr, in ein Preisverhältnis setzen lässt. Wie viel ist der "Zusatznutzen" - das gewonnene Lebensjahr, die bessere Verträglichkeit, das bessere Befinden - der Versichertengemeinschaft wert? Darf es hierfür überhaupt einen "Grenznutzen" geben? Und wie kann er kalkuliert werden?
Das IQWiG hat mit Unterstützung von internationalen Experten nun vorgeschlagen, für jede Therapie "Effizienzgrenzen" zu ermitteln. Dabei wird der nachgewiesene beziehungsweise erwartbare Nutzen verschiedener Therapiemöglichkeiten mathematisch ins Verhältnis gesetzt zu ihren Kosten und eine "Effizienzzone", die als akzeptabel gilt, bestimmt. Der Höchstbetrag würde im oberen Grenzbereich dieser Zone festgelegt werden. Liegt der Preis der neuen Therapie innerhalb dieser Zone, ist alles in Ordnung, liegt er außerhalb, kann der Hersteller den Preis senken oder der Patient muss zuzahlen.
Auf diese Weise soll nun jede therapeutische Innovation einer Kosten-Nutzen-Analyse unterzogen werden, zumindest soweit "zweckmäßige Alternativen" bereit stehen. Die Nutzenbewertung bezieht allerdings auch gesamtgesellschaftliche Aspekte mit ein - etwa der volkswirtschaftliche Schaden, der durch Arbeitsunfähigkeit entsteht. Das benachteiligt, räumt Sawicki ein, möglicherweise Patientengruppen wie Kinder oder Rentner, die nicht am Arbeitsleben teilnehmen. Ebenfalls unstrittig ist, dass in den Modellrechnungen viele Zufälligkeiten und Annahmen eingehen, die die Effizienzzonen verzerren könnten.
Der Vorteil des Modells besteht darin, dass keine indikationsübergreifenden Vergleiche angestellt und Krankheiten somit nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das IQWiG verweist ausdrücklich darauf, dass die vorgeschlagenen Effizienzgrenzen nur "Orientierungshilfen" und nach Ermessen veränderbar seien. Eindeutig aber ist die Richtung der künftigen Gesundheitsversorgung: Höchstbeträge führen dazu, dass wirtschaftlich schlechter gestellte Patienten möglicherweise keinen Zugang mehr zu besseren Therapiewegen haben werden.
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