Asyl im Wartesaal

Integration Die Politik grenzt Flüchtlinge immer noch viel zu sehr aus. Die Gesellschaft ist da zum Glück viel weiter. Davon profitieren wir alle
Ausgabe 24/2015
Glücklicherweise gibt es andere Beispiele deutscher Willkommenskultur
Glücklicherweise gibt es andere Beispiele deutscher Willkommenskultur

Foto: Westend61/Imago

Angenommen, der in Bialystok geborene polnisch-jüdische Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof, der viele Sprachen konnte und sich für eine universale Weltsprache einsetzte, hätte 1887 den Friedensnobelpreis bekommen. Dann würden wir heute wahrscheinlich alle Esperanto sprechen oder könnten uns zumindest damit verständigen. Der Syrer Yanya Ahmad würde dann nicht seit Monaten in einem kleinen Einzimmerapartment sitzen und „wie ein Besessener“ Deutsch lernen. Magueye Ndour aus dem Senegal könnte sich problemlos mit seinen Kollegen in den Ulrichwerkstätten im bayrischen Aichach unterhalten.

Das ist natürlich kein Plädoyer gegen die deutsche Sprache, sondern ein Hinweis darauf, was wir mit der Barrierefreiheit für Behinderte mittlerweile akzeptiert haben: Hürden abzubauen, die es Menschen mit einem Handicap ermöglichen, an der Gesellschaft teilzuhaben. Doch was mit Inklusions-Maßnahmen von staatlicher Seite zumindest versucht wird, scheint bei Flüchtlingen kein Thema zu sein – wenn es da nicht überall im Land zivilgesellschaftliche Initiativen gäbe. Menschen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Flüchtlinge massenhaft im Meer ertrinken, in Camps zusammengepfercht werden oder ohne Perspektive unter uns leben und darauf warten, dass über ihren Asylantrag entschieden wird.

Yanya Ahmad und Magueye Ndour sind zwei Beispiele deutscher Willkommenskultur, die es in diesem Land, trotz Pegida und Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime, ebenfalls gibt. Ahmad wohnt in Münster-Sarmsheim, einem kleinen „intakten“ Dorf in Rheinland-Pfalz, dessen Bewohner sich – weil der Ort bei der Zuweisung von Flüchtlingen leer ausging – selbst darum kümmerten, Asylbewerber aufzunehmen. Dass Ndour als Schlosser in einer Behindertenwerkstatt untergekommen ist, verdankt er dem Werkstattleiter, der den 35-Jährigen zwar nicht fest anstellen, ihm aber eine Arbeitsgelegenheit beim Bundesfreiwilligendienst beschaffen konnte. Was nach dem Freiwilligenjahr aus Ndour wird, ist offen. Trotz der Verkürzung des Arbeitsverbots auf drei Monate finden die meisten Flüchtlinge wegen ihres unsicheren Aufenthaltsstatus keine Arbeitsstelle.

Dabei befürwortet es eine Mehrheit der Deutschen, Asylbewerber schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ob aus humanitären Gründen oder weil es sie als Steuerzahler entlastet, ist dabei zweitrangig. Inzwischen kommen auch aus der Wirtschaft und von den Industrie- und Handelskammern Forderungen, wenigstens jungen Flüchtlingen während ihrer Ausbildung und zwei Jahre danach ein gesichertes Bleiberecht zu garantieren. Als erster Konzern macht sich Daimler-Benz für Flüchtlinge als Arbeitskräfte stark: Sie sollen schon nach einem Monat erwerbstätig werden können.

Keine Chance auf dem Arbeitsmarkt

Natürlich schlüpfen Unternehmen nicht plötzlich in den St. Martins-Mantel und teilen ihn aus purer Menschenliebe für die Flüchtlinge mitten durch. Aber manchmal kreuzt sich ökonomisches Kalkül eben auch mit den Interessen derer, die in Deutschland Schutz suchen und eine Lebensperspektive. Das wäre dann das, was die Bertelsmann-Stiftung in einer im Mai veröffentlichten Studie „Double Win“ nennt: Gewinner sind sowohl die Betroffenen als auch das Einwanderungsland.

In der langen Dauer der Asylverfahren sehen die Wissenschaftler den Grund, dass Flüchtlinge keine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Vielen Betrieben, die gerne einen Bewerber einstellen würden, sei das Risiko, dass er bald wieder abgeschoben werde, zu groß. Gefordert wird eine zügigere Bearbeitung und in allen Bundesländern die Möglichkeit, dass Asylbewerber schon während der Wartezeit lernen können. Die Integration in die Arbeitsgesellschaft sei eine wesentliche Voraussetzung, dass die Betroffenen auch in gesellschaftliche Netzwerke aufgenommen werden; umgekehrt stellten Netzwerke wie Vereine oder Kirchen auch wichtige Kontakte zum Erwerbsleben her.

Die Grünen haben diese Forderungen der Wirtschaft auf ihre Fahnen geschrieben. Sie verlangen mehr Geld für Deutschkurse, die Anerkennung ausländischer Qualifikationen, mehr Beratung bei der Jobsuche. Anlässlich des Flüchtlingsgipfel ist der Kieler Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) kürzlich vorgeprescht und hat verkündet, Flüchtlinge vom Tag ihrer Ankunft an integrieren zu wollen: „Willkommen in Schleswig-Holstein“. Die Verfahrensdauer dürfe nur wenige Wochen dauern, in denen eine „klare, verbindliche und bedarfsgerechte Sprachförderung“ einsetze. Danach würden die Asylbewerber „integrationsorientiert“ – also gemäß ihrer Qualifikation – auf Kommunen verteilt.

Ob sich die Flüchtlinge in den verwaisten Landstrichen im Osten und Westen ansiedeln und eine „neue europäische Gründerzeit“ mit „Subsistenzwirtschaft am guten Existenzminimum“ auf den Weg bringen werden, wie Heribert Prantl in seinem Büchlein „Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge“ meint, steht dahin. Yanya Ahmad lernt Deutsch, weil er wieder als Kinderarzt arbeiten will, nicht auf dem Land, sondern in Detmold oder Paderborn, wo er Freunde hat. Jene Netzwerke, die für jeden Einwanderer unabdingbar sind in der Fremde und bei denen es ganz gleichgültig ist, wer sie spannt und sichert.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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