Auf Widerruf akzeptiert

Weiblich, jüdisch, intellektuell Zum Tod der Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006)

Als 1992 ihre Autobiographischen Schriften erschienen, verzeichnete der Piper-Verlag noch ein falsches Geburtsjahr, und das gesamte deutsche Feuilleton (der Freitag eingeschlossen) gratulierte Hilde Domin zum 80. Geburtstag. Jahre später klärte die Autorin diesen Irrtum anlässlich einer Veranstaltung in Berlin auf: Ihr früherer Verleger habe sie 1959, als ihr erster Gedichtband Nur eine Rose als Stütze erscheinen sollte, kurzer Hand um drei Jahre jünger gemacht, weil er der Meinung gewesen sei, eine fünfzigjährige Frau als Debütantin sei ein Unding. Seither habe sich das falsche Datum hartnäckig gehalten.

Für Hilde Domins Leben ist diese biografische Anekdote sprechender als man annehmen mag. Denn ein "Fräuleinwunder" - ein durchaus schon in der Weimarer Republik bekanntes Phänomen - war die am 27. Juli 1909 in Köln geborene Lyrikerin nicht. Zwar hatte ihr die behütete Kindheit im großbürgerlich-jüdischen Elternhaus - der Vater war ein liberal gesinnter Rechtsanwalt, der schon mit der Zwölfjährigen seine Fälle durchsprach und sie nach ihren Wünschen studieren ließ - frühzeitig viele Türen geöffnet, doch die politischen Umstände trieben sie nach 1933 um die halbe Welt. Als sie 1961, mit fast 50 Jahren und wieder in Heidelberg, den Schlüssel für den ersten eigenen Briefkasten erhielt, war das für sie ein Ereignis. Hilde Domin war angekommen, die Rückkehr nach Deutschland, sagte sie später, ihre "zweite Geburt".

Über zwei Jahrzehnte lebte sie "mit dem Rücken zur Wand": Eine jüdische Frau aus Deutschland, eine Intellektuelle, die eigentlich schreiben will, doch gezwungen ist, in fremden Ländern die "Bodenmannschaft eines begabten Mannes" zu spielen. Immerhin hatte sie Glück im Unglück, denn als sie 1932 mit ihrem späteren Mann, dem Romanisten Erwin Walter Palm, nach Rom übersiedelte, ging sie "aufrecht" und musste sich noch nicht in den Strom der Flüchtenden einreihen. Das Haus von Eleonora Duse schützte sie bis Kriegsbeginn; dann flohen die Palms über England in die Karibik nach Santo Domingo (mit ihrem später angenommenen Namen wird die Dichterin dem Zufluchtsland danken). Dort sicherte sie ihrem Mann, der an seiner Wissenschaftskarriere bastelte, als Sprachlehrerin und Übersetzerin den Lebensunterhalt; all dies nichts Besonderes, nur das alltägliche Schicksal schreibender Frauen im Exil.

Die meisten haben nach Krieg und Rückkehr den Sprung auf die literarische Bühne dann nicht mehr geschafft, zumal, wenn sie, wie Hilde Domin, nicht schon an ein Vorkriegswerk anknüpfen konnten. In dieser Hinsicht war Domin also ein ganz und gar untypischer Fall: 1954 nach Deutschland zurückgekehrt, trat sie bald aus dem Schatten des Ehemanns heraus, veröffentlichte ihre ersten Gedichte, später trennte sich das Ehepaar: "Alles bis dahin Getane war Vorgeschichte".

Und Vorbereitung. Denn im Exil hatte Hilde Domin Gelegenheit, nicht nur mit vielen Sprachen umzugehen, die deutsche Sprache blieb - wie für die meisten Vertriebenen - einziger Bezugspunkt zur Heimat, "stützende Rose". Aus Domins gesammelten Schriften geht hervor, wie viel sie über Sprache nachdachte, sich an ihr abarbeitete; irritierend ist aber auch, wie wenig ihr eigenes Werk berührt ist von den intellektuellen Erschütterungen und der Sprachskepsis, von denen die jüngere Dichtergeneration in den sechziger Jahren erfasst wurde: Vom "Lyrikverbot" eines Enzensberger hielt Domin so wenig wie von den Versuchen der lyrischen Sprachzertrümmerer: "Das Nur-Negative ist Attitüde", schreibt sie einmal, und im Protestgedicht sieht sie nur die "Entlastung".

Hilde Domin ihrerseits verstand sich immer als Zeitzeugin und "Rufer". In ihrer Lyrik (1987 in Gesammelte Gedichte zusammengefasst) verkörpert sich die "Essenz des Lebens": Die Gedichte stellen das Exemplarische des privaten Schicksals aus und kondensieren es auf einen einzigen Augenblick. Dass sie für das, was sie sagen wollte, einfache, schlüssige Bilder fand und ihre Gedichte - im Unterschied zum berühmten Dichterkollegen Celan - immer mit einem zuversichtlichen Grundton unterlegt sind, hat ihr den Beifall im breiten Publikum und zahlreiche Preise gesichert - und die skeptische Zurückhaltung von Experten, die bei der Möblierung des Dichter-Olymps geneigt sind, "hermetischer" Experimentallyrik den Vorrang vor Lesebuch-Gedichten einzuräumen.

Möglicherweise entzog sich Hilde Domin der "operativen", politisch verfügbareren Prosa - außer dem essayistischen und autobiografischen Schriften existiert nur der Rückkehrerroman Das zweite Paradies - gerade, weil sie Manifesten so wenig traute wie der "negativen Attitüde". Um Hilde Domin (und ihr Werk) zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass die in Jura promovierte Dichterin in Heidelberg nachdrücklich auch von Karl Jaspers und dem Lukács-Schüler Karl Mannheim beeinflusst wurde. Von Ersterem für die Sprache sensibilisiert, lernte sie bei dem Ideologietheoretiker Mannheim etwas über die "Relationalität" von Standorten und Standpunkten und über die Tugend der Selbstdistanzierung, die Norbert Elias, seinerseits wiederum Mannheim-Schüler, später theoretisch begründete.

Wenn auch engagiert, war Hilde Domin ideologisch also wenig "erregbar", ein Grund dafür, dass offenbar nie darüber entschieden werden musste, in welches der beiden deutschen Länder zurückzukehren sei. Vielleicht war sie, als ihr Stern am Lyrikhimmel aufging, auch einfach schon zu alt, um sich der bewegten Alarmbereitschaft der Jüngeren auszuliefern und davon zu profitieren. Doch den Widerspruch, den Hilde Domin in ihrer Person vereinte - weiblich, jüdisch, intellektuell - hat sie immer politisch verstanden in dem Sinne, nur "auf Widerruf" akzeptiert zu sein. Im Schreiben hat sie das Erlittene ausgehalten und bewahrt. "Vielleicht gibt es mich nicht", schrieb sie 1962. "Aber dass es meine Gedichte gibt, scheint außer Zweifel". Hilde Domin ist vergangene Woche in Heidelberg gestorben.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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