Bilder einer unabschließbaren Geschichte

Mythen der Nationen In einer "Arena der Erinnerungen" präsentieren sich dreißig europäische Länder im Bildersturm der Nachkriegszeit

Auf der Leipziger Buchmesse diesen Jahres sorgte die ehemalige lettische Außenministerin und designierte EU-Kommissarin Sandra Kalniete für einen Eklat, als sie die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Stalinismus als "gleich kriminell" bewertete. Ein Jahr zuvor hatten 5.000 Letten in Lestene einen mit staatlichen Mitteln finanzierten Friedhof für Angehörige der lettischen Waffen-SS eingeweiht. Die "Lettische Legion" gilt auch heute bei vielen noch als heldenhafte Bastion, die in den vierziger Jahren auf Seiten der Deutschen gegen die sowjetische Besatzung kämpfte. Dass während der deutschen Besatzung und mit Unterstützung von Kollaborateuren rund 70.000 Juden ums Leben kamen, schreibt sich, von exil-lettischen Historikern forciert, erst im letzten Jahrzehnt und mühsam in das nationale Gedächtnis ein.

Das multi-ethnische Lettland ist nur ein Beispiel für all jene osteuropäischen Länder, für die der Zweite Weltkrieg nach einer wechselvollen Besatzungs- und Befreiungsgeschichte eigentlich erst im Jahre 1991 endete. So unterscheiden sich auch die Geschichten, mit denen sich an das Kriegsende erinnert wird. Bestimmten nach 1945 in den ehemals baltischen Staaten und in vielen Volksrepubliken des Ostblocks die sowjetischen Befreier das Gedächtnis der Völker, fand im Laufe der neunziger Jahre eine massive und konfliktreiche Umwertung der Überlieferung statt, die einherging mit einer Neuinterpretation der "Befreiung" und der Rolle, die die nationalen Eliten während des Zweiten Weltkriegs spielten. Besonders aggressiv wurde das historische Gedächtnis dort instrumentalisiert, wo es die Legitimität ethnischer Kriege begründete wie in der Zerfallsphase des Vielvölkerstaates Jugoslawien.

Umgepflügte Erinnerungslandschaften

Die Ausbildung nationaler Erinnerungsinstanzen, das ist eine banale Feststellung, unterliegt kulturell geprägten Ordnungsmustern. Erinnert wird, was für das nationale Kollektiv in einer jeweiligen historischen Situation opportun und erträglich ist, zumal wenn es sich um ein derart zerstörerisches und politisch nachhaltiges Großereignis wie den Zweiten Weltkrieg handelt. Der durch den Krieg zerstörte Kontinent musste nicht nur politisch und ökonomisch neu geordnet werden, auch die Erinnerungslandschaften mussten sinnstiftend umgepflügt werden.

Doch wie bildet sich die Erinnerung an das Kriegsende im Gedächtnis der Völker ab? Welche Bewältigungsstrategien wurden dabei aktiviert, was wurde verdrängt oder verschoben, welche Umschreibungen fanden im Laufe der Jahrzehnte statt? Lassen sich nationale oder konkurrierende binationale Erinnerungskulturen noch relativ leicht nachzeichnen, scheint ein historisches Panoptikum von über 30 europäischen Staaten (einschließlich den Siegerstaaten USA und der UdSSR als auch Israel) ein nahezu aussichtsloses Unternehmen, zumal, wenn sie nicht einfach aufgereiht, sondern miteinander "ins Gespräch" gebracht werden sollen.

Als "Arena der Erinnerungen" wollen die Macher ihre derzeit im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu besichtigende Ausstellung Mythen der Nationen 1945 verstanden wissen. Sie ist in dieser Form bislang einzigartig: Über 30 WissenschaftlerInnen aus fast allen europäischen Staaten stellen sich darin einem gemeinsamen, und, wie die Sammlungsleiterin Monika Flacke einräumt, auch schmerzhaften Erinnerungsdialog. Doch ihr Gegenstand sind nicht herkömmliche Quellen, sondern die Bilder, die den Stoff der nationalen Mythen liefern und die von den mit Bildmedien weitgehend unvertrauten Fachleuten historisiert und entziffert werden müssen. Wer weiß beispielsweise schon, dass es sich bei der berühmten und bis heute in jedem deutschen Schulbuch überlieferten Aufnahme des Hissens des Roten Banners auf dem Reichstag um ein inszeniertes und im nachhinein retuschiertes Motiv des Fotografen Chaldejs handelt? Und wer denkt bei der Betrachtung der ebenso bekannten Fotografie des jüdischen Jungen, der mit erhobenen Händen aus dem Bunker des Warschauer Gettos getrieben wird, daran, dass fast die gesamte Bildüberlieferung der Opfer aus der Linse der Täter stammt?

Meistererzählungen

Im Unterschied zum eindrucksvollen, fast tausendseitigen Begleitkatalog, der enzyklopädisch und versehen mit zahlreichen Karten und Chronologien durch die einzelnen Länder führt, versucht die Ausstellung eine Geschichte des Bildgedächtnisses nachzuzeichnen, in der die Ursprungsmythen und Meistererzählungen im Laufe der Jahrzehnte abgelöst werden von einem neuen Generationengedächtnis, das den verdrängten Völkermord in den Mittelpunkt rückt. Überliefern die Sieger Bilder ihrer Unverletzbarkeit - erinnert sei an die Titelseite des Daily Mirror vom 31.12.1940, die vor dem Hintergrund des brennenden London die unversehrte St. Paul´s Cathedral zeigt oder die am 24. Juni 1945 abgehaltene berühmte Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau -, erleben die besetzten europäischen Länder, gleichgültig, auf welche Weise sie mit Hitlerdeutschland verbunden waren, das Kriegsende als Befreiung. Dabei werden martialische Überlegenheitsgesten (etwa im monumentalen Gemälde von Sándor Ék Die Befreiung, das einen rotbeflaggten russischen Panzer im zerstörten Budapest dokumentiert) in der Erinnerung abgemildert: Ein Plakat zum siebten Jahrestag der Befreiung zeigt lächelnde ungarische Kinder einen sowjetischen Offizier mit Blumen begrüßend.

Den breitesten Raum der Ausstellung nimmt die Erzählung vom gemeinsamen Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland ein. Wenn nicht gar wie im Falle der DDR zum Gründungsmythos erhoben, avancierte der antifaschistische Widerstand zur Ursprungserzählung schlechthin. Gerade Länder mit einer fragilen Identität wie Belgien oder die Tschecheslowakei versuchten, die innere Zerrissenheit mit der Vorstellung äußerer Geschlossenheit zu kaschieren. Subversive Figuren wie der brave Soldat Schwejk oder der Anschluss an historische Nationalmythen stifteten eine Einheit, durch die die eigenen Verstrickungen und Schuldzusammenhänge verdeckt wurden.

Auf diese Weise konnte sich etwa das "angeschlossene" Österreich als schuldloses Opfer imaginieren, das kleine Dänemark als "David gegen Goliath" wähnen oder die "guten Holländer" konnten sich von den "bösen Kollaborateuren" absetzen. Gerade die Ausgrenzung und Tribunalisierung von Kollaborateuren diente der nationalen Selbstverständigung. Im Mythos der "Heimatfront" fand die Volkseinheit wieder zusammen, wobei der Widerstandsbegriff in dem Maße ausgeweitet wurde wie es galt, größere Bevölkerungsteile vom Verdacht, die Verbrechen im eigenen Land billig hingenommen zu haben, zu reinigen.

Sicherung der inneren Einheit

Selbst das Täterland Deutschland profitierte lange Zeit von einer Geschichtskonstruktion, die der korrumpierten verbrecherischen Elite die Mehrheit verführter Soldaten und Zivilisten gegenüberstellte. Aus historischer Perspektive lässt sich mit Monika Flacke fragen, ob die Verdrängung und das Verschweigen des Völkermords nicht vielleicht sogar Bürgerkriege verhindert oder beendet und die Koexistenz von Staaten ermöglicht haben. Dies gilt insbesondere für Länder wie etwa Frankreich oder Griechenland, in denen die inneren Verwerfungen überhaupt nur um den Preis vorläufiger Verdrängung einzuebnen waren. Wie sehr das innere Band dabei gedehnt und bis zum Zerreißen strapaziert wurde, demonstriert das Beispiel Jugoslawien.

Die zunächst von den Siegermächten implementierten und von den nationalen Kollektiven jeweils ausgeformten Meistererzählungen wiesen im Laufe der Zeit und mit dem Nachrücken jüngerer Generationen jedoch Abnutzungserscheinungen auf und führten, so Etienne François in seinem einleitenden Essay, zu "einer Art Dammbruch der Erinnerung". Die Mythen vom gemeinsamen Widerstand wurden in ein kritisches Kreuzverhör genommen und mit der Erinnerung an den Völkermord konfrontiert. Nun gerieten auch neutrale Länder wie Schweden oder die Schweiz unter den Generalverdacht, Flüchtlinge willkürlich ausgeliefert oder Deportationen in Kauf genommen zu haben, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Vorteilen, die die Beziehungen mit Deutschland für die jeweiligen Länder mit sich brachten.

Die größte Wirkung bei der Herstellung der kollektiven Gedächtnisse - sei es in Form von Entlastungserzählungen oder ihrer kritischen Inspektion - hatten zweifelsohne Film und Fernsehen. Feierte Roberto Rosselinis Rom, die offene Stadt die italienische Partisanenbewegung, die sich eins weiß mit der Mehrheit der Bevölkerung oder skandalisierte Bernhard Wickis Die Brücke den sinnlosen Einsatz von Kindersoldaten, so waren es Fernsehdokumentationen wie Claude Lanzmanns Shoah und vor allem die amerikanische Serie Holocaust, die das Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten vom Mord an den europäischen Juden stärkten.

Verbürgte Bildgeschichte

Das schon oben erwähnte Problem - dass nämlich die Bilder der Opfer in der Regel aus Sicht der Täter überliefert sind - wiederholt sich auf andere Weise bei der bildlichen Auseinandersetzung mit dem Völkermord. Denn welche Bilder überhaupt zeugen angemessen von den Tatsachen und sind imstande, die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens zu beglaubigen? Unterliegt die massenhafte und wiederholte Verbreitung des dokumentarischen Materials nicht ebenso einem unaufhaltsamen Abnutzungseffekt wie die "Pflicht zur Erinnerung" in Form von Gedenkstätten und -tagen? So verstörend die Bilder nach dem Krieg gewirkt haben mögen, so trivial erscheinen sie heute. Den Verlust ihres affektiven Reizes, ihrer bildhaften Zumutung versuchen Künstler inzwischen zu unterlaufen, indem sie die Bilder verfremden oder sich dem Thema komödiantisch nähern. Zwei in diese Richtung weisende Beispiele sind Alan Schechners Selbstporträt in Buchenwald und Roberto Benignis KZ-Film Das Leben ist schön.

Bilder, darauf machte der Kunsthistoriker Horst Bredekamp anlässlich der Präsentation des Katalogs aufmerksam, provozieren nicht nur Affekte oder stellen eine eigene Wirklichkeit her, sondern sie haben auch eine aktivierende Wirkung und machen den Betrachter zu Komplizen. Bilder verbürgen also nicht nur Geschichte, sondern setzen als "Bildakte" unabsehbare Geschichten in die Welt, die, wie das Beispiel der in Abu Ghraib gefolterten Gefangenen zeigt, nur in ihren Kontexten vollständig verständlich sind.

Die Ausstellungsmacher haben sich redlich um die Kontextualisierung der in der Ausstellung präsentierten überbordenden Bilderflut bemüht und sie thematisch zu bändigen versucht. Doch das Nebeneinander von Monumentalgemälde und Briefmarkenentwurf, von Filmsequenzen, Plakaten, Bucheinbänden und Abzeichen hinterlässt - zumal im verwirrenden Nebeneinander der vielen Staaten mit je eigener Geschichte - einen diffusen Eindruck. Am Ende bleibt vielleicht doch nur jene affektive Gefangennahme durch das einzelne Bild, aus dem Mythos wird - die eigene Wirklichkeit nicht nur des unabschließbaren Sehens, wie Leonardo da Vinci meinte, sondern eben unserer unabschließbaren Geschichte.

Mythen der Nationen 1945. Arena der Erinnerungen. Deutsches Historisches Museum Berlin, bis 27. Februar täglich 10-18 Uhr. Der zweibändige Katalog ist in der Museumsausgabe für Euro 50,-, in der gebundenen Buchhandelsausgabe im Verlag Philip von Zabern Mainz für Euro 128,- erhältlich.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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