Aus Trümmern auferstanden: So recht weiß man nicht, womit dieser neue Staat grundiert ist, der sich da auf einem schmalen Steg inmitten des zweigeteilten Zuschauerraum aufmacht, nach den Sternen zu greifen. Sind das die Scherben, die ein wahnwitziger Krieg hinterlassen hat? Ist es das Eis des Kalten Kriegs? Oder einfach nur der Schotter jener Bahngleise, auf denen das Mädchen Rita ihr Leben beenden will, bevor es dann doch wieder, gerettet, in einem Krankenhaus erwacht. Etliche Eimer muss der an Wolfgang Borchert gemahnende Kriegsheimkehrer herbeischleppen, um dieses Fundament zu schaffen. Und es ist in den folgenden anderthalb Stunden nicht gut gehen auf diesem Laufsteg der Erinnerungssplitter. Egal: Es tut sich niemand wirklich weh.
Nachdem sich vor genau zwei Jahren Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden an Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel versuchte, schließt sich für die 50 Jahre alte Geschichte in der Schaubühne am Berliner Ku’damm nun ein Kreis: an ebendem Ort, wo Rita und ihr geliebter Manfred, beide hoffnungsvolle Sprosse der DDR, bei einer Westtante untergekrochen sind. Bis Rita feststellt, dass ihres Bleibens im Westen nicht ist. Die Weltpolitik nimmt dem Paar dann die Entscheidung ab. Mit dem Mauerbau im August 1961 wölbt sich über ihnen fortan ein geteilter Himmel.
Einfach aussteigen?
Armin Petras, vom Berliner Gorki-Theater 2013 als Intendant rübergemacht ins schwäbische Stuttgart, lässt in seiner ersten Berliner Produktion nach dem Wechsel die beiden Protagonisten anfänglich aus dem Zuschauerraum heraus aus dem Jahr 1989 zurückblicken auf die 50er und 60er Jahre. Manfred, mittlerweile Börsianer, erkundigt sich bei Rita, was sich ereignet hat in den langen Jahrzehnten ihrer Trennung. „Wir versuchten unser Leben“, aber die Fehleranalyse ist wenig aufschlussreich: „Alles ist kaputtgegangen“, sagt Jule Böwe als Rita resigniert. Ein stillstehender Fluss im Hochsommer, zusammengebrochene Höhle. Kein Ort. Nirgends für die einst glücklich ausgemalte Utopie. „Aber ohne Vergessen ist kein Leben möglich“, weiß Manfred.
Der vergleichsweise brisante Auftakt, die rückblickende Rechtfertigung einer politischen Entscheidung, schmilzt auf der schmalen Eisfläche jedoch bald dahin und entwickelt sich zur Privatsoap liebesverblendeter Königskinder: Hier die zwischen Euphorie und Verzweiflung schwankende Borderlinerin Rita, dort der desillusionierte Manfred, Chemiker, der in der grauen DDR an einem neuen Kobaltblau forscht und dem Tilman Strauß nur gelegentlich einen emotionalen Ausschlag erlaubt.
Wie Wolfs Erzählung hantiert auch Petras auf mehreren Zeit- und Handlungsebenen, die teilweise lediglich in Form der unvermeidlichen Videoprojektionen – Manfred und Rita vor dem Bunsenbrenner in der Küche oder kuschelnd im Schlafzimmer, wo sie sich aus der Erzählvorlage vorlesen – in den Bühnenraum geworfen werden. Die Kostüme von Annette Riedel, die auch das Bühnenbild verantwortet, zitieren die Zäsuren: „blauer Anton“ in der Brigade, Sommerkleid und Bademantel aus den 60ern, kobaltblauer (!) Strickchic im Wendejahr 1989. Das im Wesentlichen von den beiden Schauspielern getragene Kammerstück wird komplettiert von dem eher blassen Kay Bartholomäus Schulze, der als Arzt nur kommentierend in Erscheinung tritt.
„Ich will keinen Winter. Die Berührung der Wunde vermeiden. Freundlich sein. Verstehen, dass man unendlich an der Liebe leiden kann, aber dass das für einen selber nicht in Frage kommt“, deklamiert Rita, barfuß auf dem Glas balancierend an der Mauerkante. Das „Wunder“, an das sie geglaubt hat, als sie mit Manfred in den sternenklaren Nachthimmel blickte, ist ihr abhandengekommen, der „Sputnik“ ihrer Liebe verlorengegangen in den Mühen der Ebene eines Landes, das in gemeiner Tristesse an die Wand geworfen wird, während „Bestarbeiter“ fröhlich und bühnenwirksam mit dem Presslufthammer am Aufbau der DDR werkeln. „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben!“, erschallen die Slogans aus dem Staatsbürgerunterricht. „Pappworte“, sagt Manfred, die die Liebe zur „dritten Sache“ denunzieren. „An für sich“, kontert Rita, „ist lügen schön.“
Was bei Christa Wolf als Erprobungsfeld zwischen Ich-Zweifel und Skepsis gegenüber einer Idee aufgemacht und befragt wird und 1962 mit der Hoffnung auf eine innenpolitische Wende verbunden war, wirkt aus der Bühnenperspektive des Jahres 2015 wie Selbsttäuschung, das „Vorgefühl des Paradieses“ wie eine Parodie, auch wenn zumindest Jule Böwe den existenziellen Zwiespalt stimmlich und gestisch herauszuspielen versucht.
„Einmal im Leben sollte man an Unmögliches geglaubt haben“, schreibt Christa Wolf in Kein Ort. Nirgends. „Es gab sie, die andere Zukunft“, versucht Rita Manfred zu überzeugen. Eine Zukunft, die längst Makulatur ist und nur noch erinnernd vergegenwärtigt werden kann. Doch diesem Sputnik der Erinnerung, den Petras am Ku’damm am Himmel hat aufsteigen lassen, fehlt die Schubkraft. Wie war das noch mit dem stillstehenden Fluss? Jedenfalls versteht nach dieser Inszenierung kein Mensch, warum Rita „nicht einfach aussteigen“ konnte.
Der geteilte Himmel Regie: Armin Petras Schaubühne, Berlin
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