Das charakteristische Lebensgefühl moderner Gesellschaften, behauptete der Soziologe Emil Lederer einmal, sei das Provisorium. Wo es an Besitz mangelt und alles flüchtig wird, bedarf es einer existenziellen Rückversicherung, die den Menschen erdet. Die Sozialversicherung sei deshalb nicht nur als Spartopf für die unkalkulierbaren Wechselfälle des Arbeitnehmerlebens anzusehen, sondern auch als der Versuch, das in Perioden zersplitterte individuelle Leben wieder in eine Einheit zu fügen und ein kollektives Band zwischen den Generationen zu knüpfen.
Als Lederer, der später von den Nazis außer Landes getrieben wurde, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg diesen Gedanken formulierte, steckte die heutige Form der paritätischen und umlagefinanzierten Sozialversicherung noch in den Kinderschuhen. Dass sie noch 90 Jahre später, mehr als Volkswagen und Volksaktie, Arbeitnehmersparzulage oder Wohnbauförderung, den sozialen Kitt werde liefern müssen, um die auseinander driftende Gesellschaft irgendwie zusammenzuhalten, hätte sich der Heidelberger Soziologe, ein glühender Anhänger der Sozialisierung, wahrscheinlich nicht träumen lassen.
Die neue Bundesregierung schlägt solche grundlegenden Einsichten in den Wind. Statt die Risse im Sozialgebäude wirkungsvoll auszufugen, geht sie daran, den ohnehin schon brüchigen Mörtel weiter auszutrocknen. Nichts hat im Laufe der vergangenen Tage mehr ungläubiges Entsetzen ausgelöst als die Ankündigung der Koalition, den Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung einzufrieren und die Versicherten mit Zusatzbeiträgen und einer weiteren Zwangsversicherung für die Pflege zu belasten. Von den Gewerkschaften über die Sozialverbände bis in die Reihen der Koalition wird vor dem „Plattmachen der Sozialpartnerschaft“ gewarnt.
Sie sind doch kein Härtefall
In der Sache sind diese Pläne nicht neu: Schon während der Auseinandersetzung um die letzte Gesundheitsreform versuchte die Union vehement, die Arbeitgeber von den Gesundheitskosten zu entlasten. Darauf ließ sich die SPD nicht ein, aber immerhin wurde mit dem staatlich verordneten Beitragssatz schon eine Form der unternehmerischen Planungssicherheit installiert. Der mit 95 Prozent des Bedarfs ohnehin chronisch unterfinanzierte Gesundheitsfonds hätte im nächsten Jahr so oder so mit Steuergeldern oder Zusatzbeiträgen aufgefüllt werden müssen, nur dass die scheidende Ministerin Ulla Schmidt starke Sicherungsleinen gegen soziale Härten eingezogen hatte.
Nun soll der Arbeitgeberanteil also eingefroren und ein künftiges Defizit über einkommensunabhängige Prämien der Versicherten gedeckt werden. Medizinischer Fortschritt und Kostensteigerungen, heißt das de facto, wird in Zukunft von ihnen allein getragen werden müssen. Die Union wärmt noch mit dem Versprechen, sozial Schwache würden über den Bundeshaushalt bezuschusst. Aber in welcher Höhe? Nach Kassenlage? Und wo liegt der kritische Punkt zwischen Härtefall und einfach nur einkommensschwach?
Eine Kopfpauschale in dem von Angela Merkel einst gewünschten Sinn ist das allerdings auch nicht, und das wäre für die Regierung möglicherweise sogar ein Schuss nach hinten geworden. Philipp Rösler, FPD-Verhandlungsführer und überraschend designierter Gesundheitsminister, hat dafür gesorgt, dass der schwarze Peter an die Kassen geht: Sie entscheiden über die Höhe der neuen Pauschale und wenn sie sich dabei im Wettbewerb kaputt konkurrieren, ist das politisch gewollt. Kein Unkenruf zu behaupten, dass der Leistungskatalog irgendwann eingedampft und nur noch eine Grundversorgung angeboten wird.
Gemeinsam mit der geplanten Zusatzversicherung zur Pflegekasse kommt auf die Versicherten zunächst ein so dicker Brocken zu, dass der mittels der wie immer gearteten Steuerentlastung 2011 höchstens von den Beziehern höherer Einkommen gestemmt werden kann. Die gesamte Koalitionsphilosophie nur etatistisch zu geißeln, wäre aber verfehlt. Sie atmet vielmehr den Geist radikaler Risiko- und Leistungsindividualisierung. Der clevere Versicherungskunde, der künftig wieder von Kasse zu Kasse jetten und maßgeschneiderte Angebote fordern darf, wird im Koalitionsvertrag auf der anderen Seite als mündiger Patient aufgerufen, der verantwortungsbewusst seine Risiken abchecken und präventiv das Kostenrisiko minimieren oder individuell absichern soll. Wird er gegen alle Vorsicht dennoch alt und krank, soll er einfacher als heute ausländische Hilfskräfte anheuern können oder – mangels Mittel – sein Ableben in einer Patientenverfügung niederlegen.
Vom „Altenberg“ freigekauft
Mit Philipp Rösler bekommt die Republik einen Sozialminister, der qua Biografie beweist, dass man auch unter widrigen Umständen – geboren in einem vietnamesischen Waisenhaus, adoptiert nach Deutschland, bald ohne Ziehmutter und mit Migrationshintergrund – ganz nach oben kommen kann. Er steht für eine ganze Generation, der soziale Solidarität nicht fremd ist, die aber einen Affekt gegen die sozialstaatliche Solidarverpflichtung entwickelt hat. Mit der neuen Zwangspflegeversicherung kauft sie sich frei vom künftigen „Altenberg“, schiebt fröhlich den Zwillingskinderwagen durch die Gegend und nimmt gerne Erziehungs- und Betreuungsgeld in Anspruch.
Dass sich die Lebenslagen verändert und differenziert haben, ist nicht zu bestreiten. Es gibt eben keine Bewegung für die frühkindliche kollektive Ganztagserziehung, dagegen gibt es viele Eltern, denen das Betreuungsgeld aus unterschiedlichsten Gründen willkommen ist. Immer mehr Senioren fragen Wohnformen außerhalb von Heimen nicht deshalb nach, weil es für die Solidargemeinschaft oder den Staat günstiger kommt, sondern weil sie selbstbestimmt leben wollen. Und für den arbeitsfähigen und -willigen Teil unter den Erwerbslosen ist es ein Angebot, wenn die Zuverdienstgrenzen erhöht werden und sie ihr Hartz-IV-Einkommen aufstocken können.
Dass dies den Niedriglohnsektor mit neuen Arbeitskräften speist, dass die separierten Arbeitsmärkte dadurch noch weiter auseinanderdriften, dass die Erhöhung des Schonvermögens vor allem der privaten Versicherungswirtschaft nutzt, ist die andere Seite der Medaille dieses erzwungenen oder erwünschten Individualisierungsschubs. Und es gibt zweifellos viele Menschen, die von diesen Angeboten wenig oder überhaupt nicht profitieren und sich immer stärker zu den Abgeschobenen gehörig fühlen müssen.
Während dem großen Teil der Bevölkerung die Lebensrisiken aufgebürdet werden, mit dem gleichzeitigen Angebot, das Leben individueller zu gestalten, können die ganz Schwachen nicht mehr sicher sein, wie lange der Sozialkitt noch hält. Staatliche oder private Almosen wird es weiterhin geben, niemand wird vorerst um seine Existenz fürchten müssen. Aber wie Lederer schon erkannt hat, benötigt der Mensch eine „Lebensunterlage“, die sozial verbürgt und materiell fundiert ist. Dumm handeln Regierungen, die diesen Zusammenhalt mutwillig aufs Spiel setzen.
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