Der Inbegriff der sexuellen Befreiung hat dafür gesorgt, dass Frauen ihrem „biologischen Schicksal“ nicht mehr völlig ausgeliefert sind – und ohne ihn müsste sich die westliche Gesellschaft wohl keine Gedanken über Kindernotstand und die sogenannte Überalterung machen. Am 1. Juni 1961 brachte Schering die erste Antibabypille auf den westdeutschen Markt, vier Jahre später folgte die DDR mit der sogenannten „Wunschkindpille“ namens Ovosiston. Das kleine runde Ding revolutionierte nicht nur die Geburtenkontrolle, sondern legte sie erstmals in die Hände der Frauen.
Dass in diesem Herbst nun gleich zwei Bücher auf den Markt kommen, die dieses in der damaligen Öffentlichkeit noch kaum als Sensation wahrgenommene Ereignis fokussieren, erfüllt also nur im ostdeutschen Fall eine Jubiläumsaufgabe. Doch nach drei „Pillengenerationen“ scheint die Zeit reif für eine Bestandsaufnahme, wobei die beiden Studien unterschiedliche Ansätze verfolgen. Der Journalistin Katrin Wegner geht es, wie der Titel Die Pille und ich. Vom Symbol der sexuellen Befreiung zur Lifestyle-Droge schon vermuten lässt, um die veränderte Bedeutung, die die Pille für die verschiedenen Frauengenerationen hatte und heute hat.
Die Historiker Annette Leo und Christian König unternehmen in ihrer Untersuchung rund um die „Wunschkindpille“ dagegen eine wissenschaftlich-retrospektive Tiefenbohrung in die staatliche Geburtenpolitik der DDR und stellen die Befunde in Relation zur weiblichen Erfahrung, die mittels 50 qualitativen Interviews erhoben wurde. Beide Bücher operieren mit drei abgegrenzten Alterskohorten und versuchen jeweils, einen Generationenzusammenhang herzustellen, der sich im Falle Westdeutschlands eher an der Frauenbewegung, in Ostdeutschland an der Entwicklung der DDR orientiert. Gemeinsam ist beiden Ländern, dass die Frauen – in der DDR bis zur Strafrechtsreform 1972 – mit einem existenziell wirkenden Abtreibungsverbot zu kämpfen hatten, das sie ins Ausland oder in die Hände von Pfuschern trieb.
Rätsel um geklaute Rezeptur
Ursprünglich wurde das Dragee weder im Westen noch im Osten als Kontrazeptiva verschrieben, sondern gegen Menstruationsschmerzen. Im nachkriegsprüden Westdeutschland, wo Kondomautomaten nach einem BGH-Urteil 1959 aus der Öffentlichkeit verschwanden, trauten sich auch fortschrittlichere Ärzte kaum, sich mit dem konservativen Zeitgeist anzulegen, und erst ein Bericht im Stern lüftete das verhütende Geheimnis der Pille. Aber auch im Osten waren Ärzte skeptisch, selbst wenn sich der Rostocker Sozialhygieniker Karl-Heinz Mehlan, ein Protagonist der geplanten Elternschaft, dafür starkmachte und im Kampf um die „Wunschkindpille“ eine wichtige Rolle spielte. Spannend liest sich da der Ost-West-Spionagekrimi um eine geklaute Rezeptur.
Anfang der Siebzigerjahre durfte die Pille in beiden deutschen Staaten nach wie vor nur an verheiratete Frauen, die bereits mehrere Kinder hatten, abgegeben werden. Doch in Westdeutschland machte die Frauenbewegung gegen den §218 mobil, während der Mauerbau im Osten dazu zwang, weibliche Arbeitskräftereserven zu mobilisieren; außerdem wurden dem Staat die Abtreibungen schlicht zu teuer. Aber obwohl die „volkseigene Pille“, wie der Spiegel 1965 schrieb, „von oben“ verordnet wurde, fand sie nur zögerlich ihren Weg in den Frauenalltag und stand zumindest im Westen bald schon wieder auf dem Index von Frauen, die sexuell nicht „allzeit bereit“ für Männer sein wollten. Außerdem verunsicherten Nebenwirkungen und Horrormeldungen über die krebsfördernde Wirkung der Pille in Ost und West.
Für die zweite Pillengeneration, die zwischen 1980 und 1990 geborenen Frauen, war die Pille dann, wie Wegner aus ihren Interviews herausfiltert, ein Zeichen der Reife. Die Mädchen schluckten sie, um möglichst frei zu sein, oft auch ohne überhaupt Erfahrungen mit ihrer Fruchtbarkeit gemacht zu haben. Das gilt bis heute, wo die Pille für die „Generation Ego“ ein multifunktionales Lifestyle-Produkt geworden ist, von dem sich Mädchen versprechen, Attraktivität und Verhalten zu modellieren: 79 Prozent der 14–17Jährigen konsumieren heute die Pille – und zwar unabhängig davon, ob sie sie als Verhütungsmittel benötigen.
Während Wegner diese Entwicklung kritisch verfolgt und sich ausführlich und informiert mit Produktmarketing und neueren Studien über die Nebenwirkungen der Pille auseinandersetzt, liegt die Stärke der Untersuchung von Leo und König darin, die Frauen selbst über ein Tabuthema zum Sprechen zu bringen. Was sich zuweilen etwas mühsam liest, weil die Autoren um der Authentizität willen offenbar auf jegliche Bearbeitung verzichtet haben. Dennoch ist das von ihnen gezeichnete Generationenbild erheblich differenzierter und gibt erstaunliche Einblicke in ein Stück wenig bekannter DDR-Sexualkultur, die teilweise kongruent war mit der westlichen, aber eben auch spezifische Besonderheiten aufweist.
Info
Die Pille und ich. Vom Symbol der sexuellen Befreiung zur Lifestyle-Droge Katrin Wegner C.H. Beck 2015, 202 S., 14,95 €.
Die Wunschkindpille. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR Annette Leo, Christian König Wallstein 2015, 313 S., 29,90 €
Über die Bilder der Beilage
invisible photographer asia wählte ihn unter die 30 einflussreichsten Fotografen Asiens: Erik Prasetya. Geboren 1958 in Padang, einer Hafenstadt in der indonesischen Provinz West- Sumatra, arbeitet Prasetya nach einem Technikstudium zuerst in der Ölbranche, dann als Reporter. Er stellt fest, das Schreiben ist nicht seine Stärke – dafür die Fotografie! Seit über 20 Jahren dokumentiert er nun schon das Stadtleben der Hauptstadt Jakarta. Die meisten Fotografen zelebrierten eine Mittelklasse-Ästhetik zwischen Voyeurismus, Romantik, sogar Exotik, schreibt Prasetya einmal. Eine Ästhetik, die man überwinden müsse, um die „Wahrheit“ zu finden. Das Bildessay JAKARTA: estetika banal versammelt Aufnahmen in schwarz-weiß von 1990 bis 2010. Jakarta sei seit den Reformen eine andere Stadt, sagt Prasetya in einem Interview, der Verkehr sei natürlich immer noch schrecklich.
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