Das Land, darin Milch und Honig fließt

Das Ende der Verheissung Der Preis der "guten Butter" und die Ordnung des "guten Geschmacks"

Noch bis vor Wochenfrist wäre die Frage, welcher Saft die Gesellschaft im Innersten zusammen hält, eindeutig beantwortet worden: mit Öl. Erdöl schmiert das ökonomische Getriebe. Stockt der Nachschub, verstopfen die Adern und das gesellschaftliche Gedärm bläht, gärt, treibt auf bis zum endgültigen Verschluss. Das schwarze Gold des Maschinenzeitalters hat - neben dem Kunstdünger - dafür gesorgt, dass die endemischen Hungerkatastrophen der Frühen Neuzeit überwunden werden konnten. Und damit, sollte man meinen, den Aberglauben. Schadenszauber und Hexenverfolgung gehören in eine Zeit, in der lokale Missernten oder Tierseuchen Not und Tod bedeuteten und in dem Maße, wie Gottes Strafe als Währung verlor, nach säkularen Verursachern verlangten. An Hexen glaubt heute niemand mehr. Wohl aber daran, dass angeblich 1,3 Milliarden Chinesen ihre Lactase-empfindlichen Mägen auf europäischen Standard trainieren und den hiesigen Milchsee abschöpfen. Zum Nachteil für ein (Milch)Kulturvolk, das nun nicht nur für Butter, Käse oder Quark, sondern demnächst auch für Brot und Fleisch kräftig abgezockt wird.

Dass das den Tiefen der Erde abgetrotzte Rohöl Getreide, Milch oder Fleisch nicht ersetzen kann, weiß jedes Kind, das die orale Phase hinter sich gebracht hat. In Mode gekommen ist in den letzten Jahrzehnten die öffentlich mitgeführte Nuckelflasche, die vordergründig aufgeklärtes Gesundheitsbewusstsein demonstriert, aber auch an eine grundsätzlich nie von der Milchbrust entwöhnte Spezies erinnert. Mögen Stadtkinder annehmen, dass Kühe normalerweise lila sind und Chicken Wings aus der Tiefkühltruhe kommen, mag sich die private Getreidemühle trotz Öko-Boom nicht etabliert haben und die berufstätige Mutter irgendwann die Joghurt-Herstellung aufgegeben haben: dass der Mensch natürliche Mittel zum Leben braucht und Cent und Euro, noch so appetitlich angehäuft, nicht satt machen, bedarf keiner weitschweifigen Erklärung.

Trotzdem hat die vor einigen Jahren von grünen Öko-Streitern erhobene Forderung, den Benzinpreis auf fünf Mark pro Liter anzuheben, erheblich lauteren Protest provoziert als die nun angekündigte drastische Erhöhung der Milch- und Butterpreise. Er war damals so nachdrücklich, dass der Vorschlag binnen kürzester Zeit wieder aus dem grünen Nahziel-Katalog verschwand. Kann ja sein, dass so mancher sein Auto qualitätsbewusster versorgt als seinen Nachwuchs und die Deutschen überhaupt dazu neigen, ihre Lebensqualität eher in technischer Spielerei und Kanarischen Urlaubstagen als in leiblichen Genüssen zu messen. Erklärungsbedürftig bleibt, warum wir den Preisauftrieb - von opportunem politischen Widerspruch einmal abgesehen - für Grundnahrungsmittel vorerst so relativ gelassen hinnehmen.

Vielleicht kann die Mythenwelt und das kollektive Gedächtnis einige Aufschlüsse geben. Zumindest die jüdisch-christliche Tradition erinnert an das Elend des auserwählten Volkes unter der Tyrannei. Gott gibt Moses den Auftrag, die Juden aus Ägypten herauszuführen nach Kanaan, "in das Land, darin Milch und Honig fließt". Das von Gott in Aussicht gestellte Schlaraffenland tröstete fortan nicht nur die von Hunger und Not geplagten Völker, es bewegte auch die politischen Utopisten, die nicht müde wurden, das in Milch und Honig getauchte Paradies aufzurufen (im 19. Jahrhundert träumten die Armen dann von riesigen Kartoffelbergwerken).

Es waren die Weltwirtschaftskrise und zwei große Kriege, die dem Menschen der Moderne - trotz der Entdeckung des schwarzen Goldes - noch einmal so richtig das Hungern und den nicht mehr marxistisch zu fassenden Wert der auf dem Schwarzmarkt gehandelten Lebensmittel lehrten. Den Westdeutschen muss der mit dem gemeinsamen europäischen Agrarmarkt aufblühende Wohlstand dann wie ein durch Leistung erreichbares Schlaraffenland erschienen sein. Hatte die Dienstboten haltende "Herrschaft" bis dahin noch wissen lassen, dass ihr "die Butter fürs Mädchen zu teuer" sei - und ihm die feinen Unterschiede damit regelrecht aufs Schwarzbrot geschmiert -, war sie jetzt sogar für "das Mädchen" erschwinglich geworden, auch wenn sie nur viertelpfund- und ausnahmsweise gekauft werden konnte. Vom berüchtigten "Butterberg" der EWG, dem wahrscheinlich sinnlichsten Emblem der künftigen Überflussgesellschaft, gab es zunächst die verbilligte Weihnachtsbutter, die - höchstes Zeichen des Luxus - goldgelb in den Festtagsstollen floss. Es dauerte aber nicht mehr lange, bis die Butter die Margarine vom Frühstückstisch verdrängte.

An diese Vorstellung vom Land, in dem Milch und Honig fließen, knüpften wohl auch die sozialistischen Regierungen an, als sie die Preise für Grundnahrungsmittel staatlich auf niedrigstem Niveau festsetzten - und jahrzehntelang nicht anhoben. Der damit verbundene wirtschaftliche Kollaps wurde um der kommunistischen Verheißung willen in Kauf genommen. Ein Verkaufspreis, der dem realen Wert der Milch oder des Brotes entsprochen hätte, das behaupten zumindest Historiker, hätte in der DDR zu größeren Unruhen geführt als die Ereignisse des 17. Juni 1953.

So unterschiedlich die Umstände gewesen sein mögen, so lässt sich kaum verleugnen, dass in 50 Jahren Subventionswirtschaft und Zeiten gnadenlosen Konkurrenzkampfes in der Lebensmittelbranche die Vorstellung für den realen Wert eines Grundnahrungsmittels - vorab von Milch und Fleisch, aber auch von Obst und Gemüse - verloren gegangen ist. Die Mühen, die es macht, ein Beet zu bestellen, die Hoffnungen auf die Ernte und die Enttäuschung nach Hagel oder Pilzbefall kennen nur Kleingärtner, die dann Gott oder der Lebensmittelindustrie danken, dass sie mit ihren Kartoffeln nicht den Winter überstehen müssen. Die Wiederkehr der Subsistenzwirtschaft ist kein Erfolg versprechendes Alternativmodell für die Zukunft.

Eine verdummende Milchmädchenrechnung ist es allerdings, wenn uns nun ernsthaft vorgerechnet wird, wie wenig Geld wir für Lebensmittel ausgeben - im Vergleich zu früheren Zeiten oder zu unseren europäischen Nachbarn. Erstens, weil hier eine typische Kalkulation der Mittelschicht aufgemacht wird. Wer von Hartz IV oder anderen Transferleistungen abhängt, muss einen weit größeren Anteil seines Einkommens als diese für Nahrungsmittel einsetzen. Gerade hat das Forschungsinstitut für Kinderernährung alarmiert, dass Kinder und Jugendliche von den rund drei Euro, die ihnen nach Hartz IV täglich zustehen, nicht gesund und ausgewogen ernährt werden können.

Zweitens stimmt auch der historische Vergleich nur begrenzt. Zwar mögen Grundnahrungsmittel das Budget früher stärker belastet haben, doch in den sechziger Jahren hätte sich auch kein Mensch Gedanken darüber gemacht, wie viel der damals so beliebte elektrische Kronleuchter im Wohnzimmer kostete oder das offene Fenster in der Heizperiode. Und kaum jemand hätte eine Wohnung gemietet, die fast die Hälfte des Einkommens frisst. Der Wert der Dinge und die Verteilung der Ausgaben haben sich in den letzten 50 Jahren so grundsätzlich verschoben, dass man fast von einer Werterevolution sprechen kann.

Die bislang relativ wohlfeilen Grundnahrungsmittel verdanken sich, um darauf zurückzukommen, einer ziemlich vernunftwidrigen europäischen Subventionswirtschaft, die statt Qualitätsgüter unterschiedslos Agrarflächen fördert, billige Lebensmittel nach Afrika oder Asien schafft und dort die einheimischen Produzenten ruiniert. Der Riesenanteil der europäischen Ausgleichszahlungen geht nicht an den Öko-Landwirt in der Marsch oder den Milchbauern im Allgäu, sondern er fließt in die Flächenförderung, von der zuvörderst die große Landwirtschaftsindustrie profitiert. Aber selbst dort, wo kleinere Betriebe umstellen, etwa von Getreide auf Raps, und alternative Energiepflanzen gefördert werden, kann nach dem Sinn gefragt werden, wenn der Biodiesel am Ende dazu genutzt wird, minderwertiges Fleisch in die letzten Winkel der Welt zu verschiffen.

Die großen Schlachthäuser von Chicago, in die sich vormals Brechts Johanna verirrte, oder die in Südamerika mit Kaffee betriebenen Lokomotiven während der Weltwirtschaftskrise haben sich unauslöschlich ins kollektive Bildgedächtnis eingegraben. Heute wirken sie wie nostalgische Rauchzeichen gegenüber Filmen wie We feed the world, die den Irrsinn der globalen Food-Industrie geißeln und die grausige Realität wahrscheinlich noch nicht einmal einholen. Wer den Streifen gesehen hat, wird sich an die Sinnes-Qual erinnern, auch die der Geschmacksnerven.

Geschmack aber ist, wie uns Bourdieu gelehrt hat, Distinktionsmerkmal. Wer kulinarisch unterscheiden kann, verfügt über kulturelles Kapital. "Der Geschmack", schreibt er, "paart die Dinge und Menschen, die zueinander passen" - ein Grund, weshalb die asiatischen Mittelschichten ihre Speisezettel europäischen Gepflogenheiten anzupassen bestrebt sind, so wie das einstige Dienstmädchen die "gute Butter" für sich beanspruchte. Das bürgerliche Protestmilieu der achtziger Jahre dagegen "erfand" die Ökologie und das mit gesunden Lebensmitteln verbundene "gute Leben" als Abgrenzungsmerkmal. Dort kann man es sich leisten, dass der "gute Geschmack" etwas teurer ist, selbst noch in Bio-Discountern, die mittlerweile die Alternativläden verdrängen.

Die Ärmeren der Gesellschaft haben sich von jeher mit Ausweichbewegungen beholfen. Als Laubenpieper oder als Besucher der Armen-Tafeln, auf denen die übrig gebliebenen Brosamen aufgetischt werden, damit sie den Kuchen, den Marie-Antoinette angeblich dem aufgebrachten Pariser Volk andiente, wenigstens gelegentlich zu schmecken bekommen. Das Ende der zweifellos absurden europäischen Subventionswirtschaft, nach dem nun allenthalben gerufen wird, würde diese Form der Abfütterung womöglich zur Regel machen. Gescheitert wäre damit auch das West-Modell, den Milchfluss des gelobten Landes gerecht zu verteilen.

Gesellschaftliche Paradoxien allerorten, bis hin zu der Tatsache, dass die viehischen Milchproduzenten mit ihren unerwünschten Methan-Ausstößen den Treibhauseffekt forcieren. Angesichts solcher Widersinnigkeiten sind revolutionäre Hungerunruhen wie 1789, 1847 oder nach dem Ersten Weltkrieg sehr unwahrscheinlich. Doch das solidarische Minimum sollte darin bestehen, dass für jeden und jede die "gute Butter" erschwinglich bleibt.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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