Der Druck wird steigen

Organspende Der Deutsche Bundestag hat die von Gesundheitsminister Jens Spahn initiierte Widerspruchslösung mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Aber was heißt das nun?
Wir sollten das freiwillig über Organspende informieren dürfen – und nicht begleitet von einem Appell, an die vielen Kranken zu denken, die auf unser Organ warten
Wir sollten das freiwillig über Organspende informieren dürfen – und nicht begleitet von einem Appell, an die vielen Kranken zu denken, die auf unser Organ warten

Foto: Imago images/Olaf Döring

Gibt eine Pflicht, sich zu entscheiden? Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und einige seiner Abgeordnetenkolleg*innen, darunter der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD), sagen ja. Sie initiierten einen Gesetzentwurf zur Organspende, der, wäre er angenommen worden, alle Bürger zu Organspendern gemacht hätte, es sei denn, sie hätten Widerspruch angemeldet. Das ist Praxis in vielen anderen europäischen Ländern, umstritten ist aber, ob sie dazu führt, mehr Spenderorgane zu rekrutieren. Der Deutsche Bundestag hat dem nach längerem Vorlauf und zweistündiger Debatte heute nicht entsprochen: Mit 292 Ja- von 674 abgegebenen Stimmen verwarf das Parlament die so genannte Widerspruchslösung, die, so räumte Spahn in seinem abschließenden Statement ein, tatsächlich „eine Zumutung“ sei.

In der dritten Runde – die AfD hatte einen eigenen Antrag eingebracht – setzte sich der ebenfalls überfraktionelle Entwurf von Annalena Baerbock (Grüne) und Mitstreiter*innen durch, kommentiert vom Sender Phoenix, der die Debatte live ausstrahlte, mit ihm ändere sich überhaupt nichts in Sachen Organtransplantation. Doch ganz so ist es nicht, auch wenn der in der Debatte vielfach beschworene „Paradigmenwechsel“ nicht stattgefunden hat. Zwar können nun Unfallopfern oder Patienten, die etwa einen Schlaganfall erlitten haben und für hirntot erklärt werden, nicht automatisch Organe entnommen werden, wenn sie vergessen haben, „sich zu erklären“ – doch die Nötigung dazu wird steigen.

Jedes Mal, wenn wir einen neuen Ausweis beantragen, einen Führerschein oder sonstige amtliche Papiere, werden wir gefragt werden, wie wir es mit der Organtransplantation halten. Gleichzeitig wird es ein Register geben, in dem dies festgehalten wird. Seit der Änderung des Transplantationsgesetzes 2012 wird jeder bestellte Transplantationsbeauftragte in einer Klinik oder die Mitarbeiter der Stiftung Deutsche Organtransplantation Zugriff darauf haben. Jeder Hausarzt darf uns künftig abrechnungsfähig fragen, ob wir uns mit kranken Menschen solidarisch erklären und uns „ergebnisoffen“ beraten. Aber was heißt das schon?

Jeder und jede sollte sich einmal mit Organspende beschäftigen

Insbesondere aber wird der Druck auf die Krankenhäuser steigen, spendefähige Patient*innen zu identifizieren, eine aufwändige Hirntoddiagnostik durchzuführen und die Vitalfunktionen so lange aufrechtzuerhalten, bis die Organe entnommen sind. Denn die Kliniken sind das Nadelöhr im System, organisatorisch und mental. Schon bald nach Verabschiedung des Transplantationsgesetzes 1990 wurde seitens der Transplantationsmedizin darüber geklagt, dass die Organspende dort unterlaufen, wenn nicht gar verhindert würde, um sich Arbeit und Mühe zu ersparen. Es sind die gleichen Kliniken, die seit dieser Zeit von der Politik kaputtgespart werden, die unter extremem Personalmangel leiden und deren Mitarbeiter*innen ständig mit dem Gefühl arbeiten, ihren Patient*innen nicht gerecht zu werden. Die Betreuung eines hirntoten Patienten aber, oft über Tage hinweg, ist extrem personal- und kostenintensiv.

Um es deutlich zu sagen: Jeder und jede sollte sich einmal mit Organspende beschäftigen, nicht zuletzt deshalb, um demnächst nicht auf Behörden überrumpelt zu werden und unbedacht einen Spenderausweis abzugeben. Man sollte sich über den Hirntod und die Zweifel daran informieren, mit Menschen sprechen, die als Angehörige schon einmal in der schrecklichen Situation waren, eine solche Entscheidung treffen zu müssen (und manche, die das bereuen, haben sich zusammengeschlossen in der Initiative „Kritische Aufklärung über Organtransplantation“, KAO) darüber lesen, wie es ist, mit einem neuen, fremden, Organ zu leben oder als Lebendspendende ein Organ zur Verfügung gestellt zu haben. Wir sollten das freiwillig tun dürfen, ohne jeden Druck, nicht in der Warteschlange im Amt stehend und vor allem nicht begleitet vom Appell, an die vielen Kranken zu denken, die auf unser Organ warten.

Wäre die Widerspruchslösung durchgekommen, wäre sicher umgehend das Verfassungsgericht angerufen worden, Otto Fricke (FDP) hatte sehr nachdrücklich und unter großem Beifall des Hauses auf die verfassungsrechtlichen Bedenken aufmerksam gemacht. Hätte auch der Baerbock-Antrag keine Mehrheit bekommen, wäre alles beim Alten geblieben. So jedoch steht uns eine Flut von „Aufklärung“ ins Haus, die, gemessen an dem, was die Krankenkassen heute schon vertreiben, alles andere als neutral sein wird. Gepaart mit Spahns Digitaloffensive im Gesundheitsbereich und dem geplanten Organspender*innenregister wird es vielleicht bald, keine sehr persönliche, private Entscheidung mehr sein, ob man Organspender*in ist oder nicht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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