Klinikalltag Für Kranke, Pflegepersonal und Ärzte haben die „Fallpauschalen“ vieles verändert. Vor allem leiden sie unter der höheren Arbeitsdichte und unter hohem Zeitdruck
"Die Patienten, die wir jetzt auf Station bekommen, sind älter und kränker. Sie brauchen viel mehr Pflege als früher“, berichtet eine Krankenschwester. „Die Verweildauer ist gesunken, die Patientenzahl gestiegen. Wir machen heute das Dreifache an Untersuchungen, das geht quasi wie am Fließband“, so ein Klinikarzt. „Es sind einfach immer viel zu wenig Leute auf der Station, um die anfallende Arbeit zu erledigen“, klagt ein Krankenhaus-Pfleger.
Diese Eindrücke und Momentaufnahmen spiegeln den Arbeitsalltag an deutschen Krankenhäusern. Sie berichten von Arbeitsverdichtung, hohem Zeitdruck und dem Gefühl, das Pensum nicht mehr zu schaffen. Und sie klagen, über den Anforderungen der Bürokratisierung nicht mehr zu de
mehr zu den eigentlichen ärztlichen oder pflegerischen Aufgaben zu kommen. Noch nie waren deutsche Krankenhausärzte und das Pflegepersonal so unzufrieden. Ein Viertel aller angestellten Ärzte gibt zu Protokoll, dass sie den Beruf „eher nicht mehr“, zehn Prozent sogar „sicher nicht mehr“ ergreifen würden. Der Anteil der Pflegekräfte, die schon einmal über einen Berufswechsel nachgedacht haben, weil das Gefühl überhand nimmt, ausgebrannt zu sein und keine gute Pflege mehr leisten zu können, stieg zwischen 2003 und 2006 von 47 auf alarmierende 61 Prozent.Die Kliniklandschaft in Deutschland ist im Umbruch. Zwar haben die organisierten Krankenhausärzte in den letzten Jahren Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen – nicht zuletzt auf Kosten der Pflegekräfte – durchgesetzt. Doch auch sie stöhnen unter der Arbeitslast und über die schleichende berufliche Dequalifizierung. In den letzten Jahrzehnten haben Kostendämpfungsgesetze und Sparrunden im deutschen Gesundheitssystem viele stille Reserven aufgezehrt. Die Einführung der so genannten DRGs (Diagnosis Related Groups), also der fallorientierten und pauschalierten Vergütung von Krankenhausleistungen im Jahre 2003, hat das alte System der Abrechnung nach Liegetagen allerdings endgültig verabschiedet. Die DRGs, so die viel zitierte Einschätzung des Vizepräsidenten der Medizinischen Hochschule Hannover, Andreas Tecklenburg, habe „die Welt der Krankenhäuser mehr verändert, als alle Gesundheitsreformen vorher zusammen.“ „Mehr Markttransparenz“ und „Produktivitätssteigerung“, feiert der eben erschienene Krankenhaus-Report 2010 das DRG-System.Zunächst ist das aus Australien importierte Fallpauschalen-Modell nichts weiter als ein Klassifikationssystem, nach dem Leistungen im stationären Sektor möglichst genau abgebildet und abgerechnet werden. Es sollte das undurchsichtige Abrechnungsgeschehen im stationären Bereich transparent machen und setzt die genaue Dokumentation der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeiten voraus. Doch wo in Australien gerade mal zwei Drittel aller stationären Krankheitsereignisse erfasst werden, wurde das System „in typischer deutscher Gründlichkeit“, so Johann Graf, mit Ausnahme der Psychiatrie auf das Gesamtbudget ausgeweitet.Reha als DurchlauferhitzerGraf ist Personalrat des Uniklinikums Tübingen und gleichzeitig als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsgremium der Allgemeinen Ortskrankenkasse tätig. Mit 16.000 Betten und 8.000 Beschäftigten ist das Klinikum eines der führenden Zentren der Hochschulmedizin und gehört in die Kategorie der Maximalversorgung. Die bei Einführung der DRGs grassierende Furcht der Großkrankenhäuser, so Graf, dass ihre Mehrleistungen und Vorhaltekosten gegenüber den kleineren Einrichtungen nicht genügend berücksichtigt würden, haben sich als unbegründet erwiesen. Inzwischen ist der Katalog mit 1.137 (Stand 2008) Klassifikationen so ausdifferenziert, dass fast alle Bereiche gut abgebildet sind. Im Vergleich verfügt das US-Versicherungssystem Medicare mit nur 499 und Health Care 661 DRGs über eine vergleichsweise grobe Rasterung. Das bestätigt auch eine 2007 vom Bundesministerium initiierte Umfrage bei den Krankenhäusern und die WAMP-Studie von Bernard Braun und anderen (siehe Kasten). Auch was die mit der Verkürzung der Liegezeiten erwarteten Frühentlassungen („blutige Entlassungen“) betrifft, wurde mehr schwarz an die Wand gemalt, als es das „weiße“ Krankenhaus – bislang noch – zulassen würde. Zwar ist die Verweildauer zwischen 2003 und 2008 um 8,3 Prozent gesunken, doch vier Fünftel der Ärzte und drei Viertel der Pflegekräfte sind nach wie vor davon überzeugt, dass die meisten Patienten angemessen lange versorgt werden. „Die schlimmsten Befürchtungen haben sich nicht bestätigt“, sagt auch Personalrat Graf, vor allem deshalb, weil kein Krankenhaus unter Konkurrenzdruck Interesse daran hat, sich mit Patientenklagen herumzuschlagen.Der so genannte Drehtüreffekt – also die zu frühe Entlassung und spätere Wiederaufnahme von Patienten – stellt sich auf einer anderen Ebene ein. Viele Patienten werden aufgrund der Fallpauschalen und der damit verbundenen Verkürzung der Liegezeiten relativ schnell in die Rehabilitationseinrichtungen „abgeschoben“. Oft sind Wunden noch nicht ordentlich verheilt oder die Betroffenen nach einer Operation noch so schwach, dass sie die Reha-Maßnahmen gar nicht in Anspruch nehmen können. Auf die dort Beschäftigten kommen dann, wie eine neuere REDIA-Studie (Auswirkungen der DRG-Einführung auf die medizinische Rehabilitation) zeigt, ganz neue Aufgaben zu: Wundversorgung, Fädenziehen und vieles mehr. Der Reha-Sektor wird auf diese Weise zu einer Art „medizinischem Durchlauferhitzer“ (Deutsches Ärzteblatt) mit bedenklichen Folgen.Betroffen sind insbesondere ältere und multimorbide Patienten, also Menschen, die an mehreren Krankheiten leiden. Wenn sie nach einer Hüft-OP oder einer Herzoperation aus der Reha entlassen werden, sind sie häufig noch nicht in der Lage, sich zu Hause selbst zu versorgen. Der 75-jährigen Gisela S. beispielsweise wurde 2007 ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt. Die OP verlief gut, sie kam in die Reha, konnte die dort angebotenen Maßnahmen aber nicht nutzen, weil sie noch nicht kräftig genug war. Nach ihrer Entlassung hatte sie noch beträchtliche Probleme mit dem Gehen. Die alte Dame, die alleine lebt, hätte ohne eine ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe nicht gewusst, wie sie sich versorgen soll.Häufige BronchoskopienIn der stationären Akutversorgung haben DRGs dagegen eine Selektionswirkung. Es werden nämlich bevorzugt die PatientInnen aufgenommen, die Geld bringen. „Als Aufsichtsrat“, so Johann Graf, „habe ich schon erlebt, dass der Vorstand an die ärztlichen Direktoren die Direktive ausgibt, solche DRGs zu pushen, die schwarze Zahlen bringen und die roten möglichst abzuschieben.“ Was das bedeutet, berichtet Gabriele Kaiser, ebenfalls Personalrätin am Klinikum und als Krankenschwester in der Abteilung für Hämatologie, Rheumatologie und Pulmologie tätig. Früher sei die Station noch ausschließlich für die Häma-PatientInnen zuständig gewesen, berichtet sie. Aber trotz Zusammenlegung der drei Fachrichtungen seien nach der DRG-Einführung die kostspieligen Rheumageplagten dann einfach verschwunden. „Bronchoskopien werden hoch vergütet“, sagt sie, „die machen wir jetzt häufig. Die RheumapatientInnen dagegen werden kaum mehr aufgenommen, weil sie kein Geld bringen. Ich weiß nicht, wo die nun bleiben.“Kaiser klagt ebenfalls über die hohe Arbeitsbelastung und den Druck, den jeder Beschäftigte spürt, die Fallzahlen zu erhöhen und die Patienten früher zu entlassen: „Die stehen dann nach ein paar Tagen mit Entzündungen wieder in der Notaufnahme.“ Auf der einen Seite werden aus Kostengründen Stationen zusammengelegt und das Pflegepersonal muss mit mehreren Ärzteteams zeitaufwändig kooperieren. Gleichzeitig werden immer mehr ärztliche Leistungen wie Blutabnahmen an die Pflegenden delegiert, während Teile der pflegerischen Arbeit wiederum das schlecht bezahlte Servicepersonal, mit dem am Uniklinikum experimentiert wird, übernimmt.Widersprüchlich sind die Aussagen darüber, in welchem Maße sich mit der Einführung der Fallpauschalen der Dokumentationsaufwand für Ärzte und Pflegende so erhöht hat, dass er die Versorgung gefährdet. Graf und Kaiser sind überzeugt, dass der Anteil bürokratischer Tätigkeit enorm gestiegen ist, „durchaus arbeitsmarktwirksam“, wie Graf ironisch anmerkt, denn nicht nur in den Kliniken, sondern auch bei den Krankenkassen werden die Kontrolleure eingesetzt. Aus der WAMP-Befragung lässt sich der dramatische Anstieg der Dokumentationsarbeit nicht unbedingt ableiten. Der Mitautor und Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock mutmaßt, dass bei dieser verzerrten Wahrnehmung eher das populistische Vorurteil gegen Bürokratie eine Rolle spielt.Es geht um hohe Fallzahlen Überzeugt sind er und seine Kollegen dagegen, dass der Einzug betriebswirtschaftlicher Kennziffernrechnung im Krankenhaus und die privatwirtschaftliche Konkurrenzauslese weitgehend ungesteuert verläuft. Dass es dabei nicht um den Wettstreit um medizinische Qualität, sondern um gewinnbringende Patienten und hohe Fallzahlen geht, bestätigt auch Graf. Er verteidigt das alte Liegezeitensystem, das von den Krankenhäusern vielfach missbraucht wurde, nicht, sieht aber die Gefahr, dass der zunehmende Kostendruck zu Lasten der medizinischen Versorgung geht.Noch garantieren in Deutschland die Bundesländer für die Sicherung der Krankenhausversorgung, wenn der Krankenhaus-Report auch vor den Folgen der laufend sinkenden Investitionsquote warnt. Noch nimmt die große Mehrheit der Ärzten und Pflegekräfte ihren Auftrag ernst, im Krankenhaus nicht „Kunden“ zu bedienen, sondern Patienten nach Maßgabe des medizinisch Notwendigen zu versorgen. Doch wenn der Kontrolleur des Medizinischen Dienstes unsichtbar hinter dem Arzt steht und seine Entscheidung beeinflusst, wenn von den Klinikleitungen die Vorgabe kommt, lukratives „Patientengut“ bevorzugt zu behandeln und wenn Patienten kein „Fall“ mehr, sondern eine „Fallpauschale“ darstellen – dann könnten Zeiten anbrechen, wo sich das ärztliche und pflegerische Selbstverständnis allmählich verändert. Noch befindet sich das System im Umbruch, noch hat das ökonomische Kalkül im Krankenhaus die beruflichen Überzeugungen und Haltungen der dort Tätigen nicht unterminiert. Doch der Konflikt zwischen Überzeugung und ökonomischer Handlungslogik ist schon spürbar.
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