Der Fall ereignete sich 1999 und ging spektakulär in die Medizin- und Rechtsgeschichte ein: Eine im Kreiskrankenhaus Zittau angesetzte Schwangerschaftsunterbrechung in der 29. Woche verlief nicht planmäßig, als der als "zwergwüchsig" diagnostizierte Fötus nicht tot, sondern lebend zur Welt kam. Der damalige Chefarzt der Frauenklinik verhinderte die Versorgung des Kindes und erstickte es. Die spätere Autopsie ergab, dass das Baby lebensfähig gewesen wäre, der Arzt wurde 2002 zu zwei Jahren Haftstrafe verurteilt, das Urteil 2003 höchstrichterlich bestätigt.
Frage von Leben und Tod
Unter dem Eindruck dieser medial dramatisierten Ereignisse kündigte die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) an, Spätabtreibungen nach §218 Abs. 2 - also Schwangerschaftsabbrüche nach der 22. Schwangerschaftswoche - einschränken zu wollen. Obgleich mit der Strafrechtsänderung von 1995 die embryopathische Indikation gestrichen worden war, ist die Abtreibung eines geschädigten Embryos bis heute noch nach der Dreimonatsfrist möglich, wenn Gefahr für das Leben der Mutter oder eine unzumutbare Beeinträchtigung ihres gesundheitlichen und seelischen Zustandes absehbar ist. Voraussetzung sind zwei ärztliche Gutachten, jedoch keine weitere Beratung.
Seither erlebt die Diskussion um Spätabtreibungen immer neue Konjunkturen: 2001 forderte die Union die rot-grüne Regierung zu einer entsprechenden Ergänzung des §218 auf und formulierte einen eigenen Antrag. Ihre am Lebensschutz orientierte Argumentation wurde von Behindertenverbänden unterstützt, weil diese die diskriminierenden Folgen von Abtreibungen behinderter Föten fürchten. Auch die Bundesärztekammer sah Handlungsbedarf, denn "Frühchen" sind immer früher außerhalb des Mutterleibs lebensfähig. Unter Umständen müssen Gynäkologen also ein 20 Wochen altes Baby am Leben erhalten und gleichzeitig einen 29 Wochen alten Fötus mit einer den Herzstillstand auslösenden Kaliumchlorid-Injektion zu Tode bringen. 229 Spätabtreibungen wurden 2007 gemeldet, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher.
Die rot-grüne Regierung hatte das "heiße Eisen" Abtreibung schließlich dann doch nicht anfassen wollen. 2005, schon unter der Kanzlerschaft Merkel, startete die CDU/CSU-Fraktion unter der Federführung ihres familienpolitischen Sprechers, Johannes Singhammer (CSU), dann einen neuerlichen Vorstoß und versuchte, die SPD ins Boot zu holen: nach langem Hin und Her vergeblich. Nun wollen er und 184 weitere Abgeordnete einen Gruppenantrag einbringen. Danach sollen sich Frauen, die ihre Schwangerschaft nach medizinischer Indikation unterbrechen wollen, künftig obligatorisch beraten lassen. Ärzte, die ihrer Beratungspflicht nicht nachkommen, müssen mit einem Bußgeld von bis zu 10.000 Euro rechnen. Zwischen der Indikationsstellung und dem Abbruch sollen drei Tage Bedenkzeit liegen, während der die Schwangere ihre Entscheidung abwägen kann. Außerdem sollen die Fälle besser dokumentiert werden als bisher.
Gegen die Bedenkzeit gibt es zwischen den Fraktionen wenig Dissens, doch die meisten Sozialdemokratinnen lehnen die bevormundende Zwangsberatung ab und weisen darauf hin, dass im demnächst zu verabschiedenden Gendiagnostikgesetz die Beratung, die in Zusammenhang mit der genetischen Diagnostik steht, ohnehin geregelt würde. Auch Bundesjustizministerin Zypries kann sich für das Beratungsmodell der Union nicht erwärmen. SPD und Grüne haben eigene Anträge angekündigt.
Gemessen an den tatsächlichen Fallzahlen wirkt die nun über Jahre hinweg sorgsam genährte Diskussion auffallend erregt und erinnert an die hysterischen Reaktionen bei Kindesaussetzungen und Kindstötungen - als ob die Gesellschaft durch die Schmelzung der Spitze den darunter liegenden Eisberg vergessen machen wollte. Denn Spätabtreibungen sind nicht das Ausgangsproblem, sondern lediglich eine Folge der ausufernden vorgeburtlichen Diagnostik. Seit den siebziger Jahren sind pränatale Tests, die mehr oder minder sicher genetische oder andere "Defekte" aufspüren, zum festen Bestandteil der Schwangerenvorsorge geworden. 85 Prozent aller Schwangeren nehmen heute das vorgeburtliche Screening in Anspruch, wer es ablehnt, sieht sich in der Begründungspflicht.
Folgenreiche Entscheidungen
Was bei den diversen Untersuchungen "erkannt" und "gewusst" werden soll, ist in der Regel aber keine Aushandlungssache: Während sich Schwangere von den Tests nur die Sicherheit erhoffen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, sehen die Diagnostiker nicht "selektiv" nur die behandelbaren Schäden, sondern möglichst alles - und das kann für den Fötus tödliche Folgen haben. Auch wenn Frauen in der Beratung auf die Konsequenzen ihrer Entscheidungen aufmerksam gemacht werden - abnehmen kann sie ihnen niemand. Entscheidet sie sich gegen ein Kind mit beispielsweise einem möglichen Down-Syndrom, hat es, egal ob das Urteil in der 14. oder in der 24. Woche gefällt wird, die gleichen Folgen für Mutter und Kind.
Die Frauen, die nach der 22. Woche eine Schwangerschaft unterbrechen, stehen also nur am Ende einer langen Schlange von Schwangeren, die sich bei jedem Ultraschall, bei jeder Auffälligkeit der Nackenfalte oder jedem abweichenden Chromosomenbefund darüber klar werden sollen, ob sie dieses Kind bekommen wollen, was ihr Umfeld und die Gesellschaft von ihnen erwarten und was sie selbst zu tragen bereit sind.
Fällt eine solche Entscheidung in einem frühen Stadium, wenn sich Frauen gerade mit ihrem neuen Zustand auseinanderzusetzen beginnen, leichter? Das unterstellt zumindest die Wissenschaft und bemüht sich, den Zeitpunkt der Diagnose möglichst weit nach vorne zu verlegen: Gerade tüfteln Forscher an einem Verfahren, Trisomie 21 - also ein Down Syndrom - möglichst schonend und früh zu erkennen. Aber mit welchem Ziel?
Würde es der Union tatsächlich um ethische Bedenken gehen, müsste sie viele prädiktive Tests, die heute ins normale Repertoire der Schwangerenvorsorge gehören, problematisieren. Da für die meisten Diagnosen keine Therapien zur Verfügung stehen, kann von Behandlung und Heilung keine Rede sein. Das gilt für ein früh diagnostiziertes erwartetes Down Syndrom ebenso wie für eine erst spät zu entdeckende Schädigung. Warum hat die Union dann nur die Spätabtreibung im Visier?
Aber womöglich geht es politisch gar nicht um Föten und nicht einmal um die Bevormundung von Frauen. Am Wochenende im ZDF von Peter Hahne befragt, wie die Kanzlerin das "c" in Europa und den christlichen Auftrag der Union stärken wolle, nannte sie als erstes und einziges Projekt die Spätabtreibung. Aha.
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