Der Freitag: Wenn Karikaturisten den Sozialabbau bildlich fassen, greifen sie gerne auf das Loch im sozialen Netz zurück, durch das Bedürftige fallen. In der letzten Ausgabe des Freitag sieht man Angela Merkel, die die Aufhängung des Netzes durchschneidet. Sie kommentiert, das seien nur „kleine Einschnitte“. Halten Sie diese Beschreibung des zukünftigen Sozialstaats für zutreffend?
Stephan Lessenich:
Nicht ganz, weil es immer noch Gruppen gibt, die sozial nach wie vor gut abgesichert sind. Der deutsche Sozialstaat, wie wir ihn aus der Nachkriegszeit kennen, war an der Mittelschicht orientiert, das heißt an abgeleiteten Ansprüchen aus dem Erwerbseinkommen. Im „goldenen Zeitalter“ konnte der Sozialstaat es sich noch erlauben, zunehmen
n aus dem Erwerbseinkommen. Im „goldenen Zeitalter“ konnte der Sozialstaat es sich noch erlauben, zunehmend auch ärmere Schichten in seine Tätigkeit einzubeziehen. Die jetzt angekündigten Maßnahmen allerdings wirken in hohem Maße selektiv. Die Leistungen der ohnehin Schlechtgestellten werden noch einmal abgesenkt. Das ist Ausdruck der Debatte der letzten Jahre, in der „Leistungsträger“ gegen „unproduktive“ Schichten ausgespielt wurden. Das Bemerkenswerte ist jetzt, dass diejenigen, die ohnehin am wenigsten vom Sozialstaat zu erwarten haben, noch einmal geschröpft werden, während die erwerbsabhängigen Leistungen und Steuern zunächst nicht betroffen sind. Sie haben Kritik am Diskurs über den Sozialabbau geäußert und dabei auch den Begriff „neoliberal“ als unzutreffend bezeichnet. Warum?Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass wir in den letzten zehn bis 15 Jahren einen umfassenden Abbau von Sozialleistungen erlebt haben oder die Bürger zur privaten Vorsorge herangezogen wurden. Das heißt, soziale Risiken gehen in die individuelle Verantwortung über. Diese Seite lässt sich mit dem Begriff „neoliberal“ fassen. Die andere Seite ist, dass denjenigen, die im Erwerbsleben und bei der sozialen Sicherung ohnehin schon benachteiligt sind, nahe gelegt wird, sie müssten nun für die Allgemeinheit mehr leisten, weil sie per se unproduktiver seien und wenig beitragen für die Gemeinschaft: Das bezeichne ich als neosozial. Es wird eben nicht nur abgebaut, sondern die Zumutung, für die eigene soziale Sicherheit die Verantwortung zu übernehmen, wird verknüpft mit der Vorstellung, man habe für das allgemeine Ganze beizutragen und der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Die neoliberale Eigenverantwortung wird also begründet mit einer Verpflichtung aufs Soziale, die ausgerechnet denjenigen auferlegt wird, die am schwächsten sind. Der Übergang vom „Versorgungsstaat“ zum „aktivierenden Sozialstaat“ beinhaltet die Mobilisierung der Arbeitskraft und ein auf die Gesellschaft verpflichtetes Selbstmanagement unter dem Motto „Fordern und Fördern“. Die Sparbeschlüsse setzen aber gerade an den Programmen an, die Erwerbslose für den Arbeitsmarkt fit machen sollen. Ist das ein Eingeständnis, dass der „aktivierende Sozialstaat“ eine Chimäre war und gescheitert ist? Die Aktivierungspolitik greift unterschiedlich, und es gibt gesellschaftliche Gruppen, die dieser Aufforderung durchaus genügen, denken Sie an die Mittelschichten, die ihre Gesundheitsprogramme absolvieren, Eltern, die alles Erdenkliche tun, um ihre Sprösslinge auf den Lebenswettbewerb vorzubereiten oder die aktiven Älteren, die sich gerne fürs Ehrenamt mobilisieren lassen. Im Hinblick auf Hartz-IV-Empfänger aber steht das Fordern im Vordergrund. Zum einen, um den zahlenden Mittelschichten vorzuführen: Wir holen für euer Geld auch etwas zurück, zum anderen, um die betroffenen Leistungsempfänger aufzufordern, endlich auf die Beine zu kommen. Das ist aber ungerecht, weil die Chancen, solche Aktivierungsprogramme wahrzunehmen, strukturell ungleich verteilt sind. Wenn die Vermittlung von Arbeitslosen nun „effizienter“ gemacht werden soll durch Einsparung von rund acht Milliarden Euro, dann heißt das nichts anderes, als dass Möglichkeiten der Weiterbildung oder der langsamen Heranführung an den Arbeitsmarkt eingeschränkt werden und gleichzeitig der Arbeitszwang radikalisiert wird. Wenn Hartz-IV-Empfängern auch noch das Elterngeld gestrichen wird, ist das außerdem zynisch und schließt an demografische Diskurse an, die behaupten, dass nicht nur zu wenig, sondern auch noch die falschen Kinder geboren werden. Wollen sich die Leistungsträger solche Aktivierungsmaßnahmen für Bedürftige nicht mehr leisten oder sind die Angesprochenen einfach gar nicht mehr dazu in der Lage, wenn Sie an Langzeitarbeitslose oder Jugendliche denken, die als „ausbildungsunfähig“ gelten?Eindeutig gibt es Stimmen, die sagen, wir wollen uns keine Lebensmodelle leisten, die von Erwerbsarbeit abgekoppelt sind. Zum anderen muss man die Gruppen, die seit Jahrzehnten nicht mehr in die Erwerbsarbeit kommen oder in der zweiten Generation von Transferleistungen leben, genauer analysieren. Es gibt zweifellos arbeitsentwöhnte Milieus. Statt sie aber ins „Kröpfchen“ zu werfen, müssen wir uns darauf verständigen, ob grundsätzlich jeder und jede in dieser Gesellschaft seine und ihre Existenz über den Arbeitsmarkt sichern muss, unter Umständen sogar mit den Mitteln des Zwangs. Aktivierende Bürgerarbeit oder bedürftigkeitsgeprüftes Bürgergeld? Sind das die möglichen Zukunftsoptionen des Sozialstaats?Nein, es sind eher Versuche, unter den gegenwärtigen Bedingungen die Erwerbsgesellschaft einigermaßen aufrecht zu erhalten. Entweder strickt man erwerbsähnliche Lebensführungsmuster oder man senkt, wie die FDP es will, die Löhne so weit und stockt sie über Transferleistungen auf, um den Arbeitsanreiz zu erhöhen. Ich glaube, dass das der falsche Weg ist, denn wenn derart viele Menschen nicht in Erwerbsarbeit kommen, sagt das etwas über die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aus und nicht über die Personen, die Arbeit suchen oder sich ihr möglicherweise entziehen. Man muss doch sehen, dass die Zahl der Arbeitsplätze, die attraktiv oder auch nur zumutbar erscheinen, unablässig sinkt. Wir müssen uns also um die Qualität der Arbeitsplätze in diesem Land streiten und darüber, was wir denen anbieten, die keine Arbeit finden oder unattraktive nicht annehmen wollen. Entweder muss man für attraktivere Angebote sorgen oder, wenn miese Jobs nicht angenommen werden, eine erwerbsunabhängige Leistung zahlen. Also bedingungsloses Grundeinkommen? Das Grundeinkommen ist nicht allein seligmachend, wäre aber die Anerkennung, dass jeder Bürger einen existenzsichernden Geldanspruch hat, unabhängig von seiner Lebenssituation. Es sollte in die Debatte vor allem deshalb eingeführt werden, um parallel auch endlich wieder über die Qualität von Arbeit zu sprechen, über Belastungsstandards, Arbeitszeiten und Mindestlöhne. Und das Grundeinkommen darf nicht den Zugang zu anderen öffentlichen Sozialleistungen ersetzen. Der ehemalige „Versorgungsstaat“ garantierte soziale Sicherheit, Umverteilung, gesellschaftliche Integration und Befriedung. Ist die Gesellschaft darauf nicht mehr angewiesen? Man darf den „alten“ Sozialstaat nicht glorifizieren. Er ist errichtet worden in einer Prosperitätsphase, aber in seiner Funktion ist er heute nicht weniger wichtig. Er schafft Erwartungssicherheit und stellt sozialen Frieden her. Wir werden, gerade aufgrund der Verschuldung, in den nächsten Jahren viele soziale Konflikte erleben. Gerade deshalb benötigen wir den Sozialstaat, um denjenigen, die auf der sozialen Stufenleiter unten stehen, gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Momentan pfeift die Mittelschicht noch im Walde, schiebt den Anderen die Schuld zu und denkt, der nächste Wachstumszyklus wird es richten. Aber um eine grundlegende Reform des Sozialstaates wird man nicht umhin kommen.Die französische Publizistin Vivienne Forrester hat vor 15 Jahren die Entwicklung einmal so beschrieben: Erst Ausnutzung, dann Ausgrenzung und schließlich Eliminierung der Arbeitskraft. Vielleicht parkt man die Überflüssigen ja auch nur noch an Fresstafeln und beim Fußball?Wenn man sie denn wirklich angemessen versorgt parken würde, wäre das noch eine einigermaßen erträgliche Vorstellung. Ihr Ausschluss vom Arbeitsmarkt war bislang sozial abgefedert und ging auf Kosten von Dritten in anderen Ländern, in denen unsere sozialen Standards nicht galten. Unser Wohlstand, auch der geringe der Armen, beruhte auf den schlechten Lebensbedingungen in der übrigen Welt. Dieser Konflikt wird nun in die Grenzen unserer Gesellschaft zurückkatapultiert, nur dass die „Sozialschmarotzer“ auch noch verantwortlich gemacht werden für ihre und für unsere Malaise. Der „Terror der Ökonomie“, den Forrester beschrieb, ist auch der Terror einer Leistungskultur und Unterwerfungsbereitschaft, der uns noch um die Ohren fliegen wird. Ich kann mir vorstellen, dass sich das auch in Form von politischer Aggression äußern wird.Ist da nicht eher der Wunsch der Vater des Gedankens eines linken Sozialwissenschaftlers, der hofft, dass die Deklassierten beginnen, Widerstand zu leisten?Das kann ich nicht wirklich abstreiten. Wenn die Politik auf die Beweglichkeit und Eigeninitiative der Menschen setzt, kann man nicht sicher sein, dass die Bewegung nur in die von ihr oder uns gewünschte Richtung geht. Die Demütigung der Deklassierten kann verschiedene Richtungen nehmen: Vielleicht entziehen sie sich nur den Zumutungen und erfinden neue Lebensformen. Oder sie schließen sich zusammen, politisch oder „sozial abweichend“. Die Montagsdemonstrationen nach Hartz IV werden dann für die Regierenden und ihre Mittelschicht eine fern-nostalgische Erinnerung sein.
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