Nur 24 von 100 Kindern aus Nichtakademikerhaushalten erreichen heute noch eine Universität. Gemessen an der ambitionierten Bildungsreform Westdeutschlands, die in den sechziger Jahren stattfand, ist das eindeutig ein Rückschritt. Hatte sie doch das Ziel, die Begabungsreserven der „unteren Schichten“ zu mobilisieren. Angestoßen wurde die bildungspolitische Debatte im Jahr 1964 von Georg Picht mit seinem Buch Die deutsche Bildungskatastrophe. Es bediente den sozialliberalen Zeitgeist, der Bildung zur zentralen Aufstiegschance erklärte. Mitgerissen von dieser nachhaltigsten Bildungsbewegung in Deutschland wurden damals auch die Arbeiter- und Landmädchen, die als besonders benachteiligt galten.
Eine davon ist die Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz. Sie wurde in dem Jahr eingeschult, als die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Grundgesetz verankert wurde. Ihr Vater „blieb im Krieg“, wie man damals sagte, sie wuchs mit ihrer Mutter in einer freireligiös geprägten Familie bei den Großeltern auf.
Ein Arbeiterkind mit „höherer Bildung“?
Gisela Notz: „Bildung spielte in unserer Familie durchaus eine Rolle. Arbeiterfamilien sind ja nicht per se bildungsfern, sondern dort werden einfach andere Vorstellungen vermittelt als in bildungsbürgerlichen Haushalten. Wir wurden dazu angehalten, uns sozial zu verhalten und in der Schule mindestens genauso gut wie die anderen zu sein, weil man, wenn man nicht in der Kirche war, ohnehin auffiel. Ziel war es, dass wir uns im Leben zurechtfanden und etwas für die Zukunft mitnahmen. Höhere Bildung war weniger ein Thema. Als Arbeiterkind machte man den Volksschulabschluss, oder, wenn überhaupt, die Mittlere Reife. Ich erinnere mich da an eine Geschichte: Als wir, ich und meine Cousine, eingeschult wurden, im Hungerjahr 1948, machte mein sozialistisch eingestellter Großvater den Vorschlag, dass die Eltern keine Schultüten herrichten, um die sozialen Unterschiede nicht schon zu Schulbeginn zu betonen. Er erzählte uns von dieser Abmachung. Wir gingen also, barfuß, in die Schule und waren dann doch die Einzigen, die ohne Zuckertüte dastanden. Selbst wenn manche Kinder nur Kartoffeln drin hatten, auf denen ganz oben Schokolade lag. Dass ich deshalb ein Schultüten-Trauma hätte, kann ich aber nicht sagen: Bedauert werden wollte ich nie. Nur die Kindergeburtstage in Haushalten, wo die Väter Prokuristen waren oder ähnliches, habe ich in schlechter Erinnerung. Da war einem alles fremd, und man wusste nicht, wie man sich verhalten soll. Immer war da die Angst, mir fällt die Torte auf den Perserteppich.“
In den fünfziger und sechziger Jahren besuchten nur fünf Prozent eines Jahrgangs die Universität, und von den Studierenden stammten nach Ralf Dahrendorfs bekannter Studie Arbeiterkinder an deutschen Universitäten rund fünf Prozent aus der Unterschicht. Die meisten waren Jungs. „Das Arbeiterkind mit ‚Köpfchen’ kommt ins Büro“, schrieb Dahrendorf damals. Bis in die späten sechziger Jahre hinein wuchsen Mädchen mit dem Leitspruch auf: „Bildung lohnt nicht, die heiratet ja doch.“ Die Soziologin Helke Pross war die erste Wissenschaftlerin, die diese unausgeschöpften Begabungsreserven thematisierte und den diskriminierenden Lehrplan für Mädchen an den Hauptschulen kritisierte.
Ohne Vater kein Gymnasium
„Ich bin in einem Genossenschafts-Häuschen in der Gartenstadt aufgewachsen. In der Siedlung wohnten etliche Frauen alleine mit ihren Kindern, das intakte Familienbild der fünfziger Jahre entsprach überhaupt nicht der Realität. In unserem Häuschen lebten neben meinen Großeltern und mir auch noch meine beiden Cousinen mit ihren Eltern. Außerdem gab es noch zwei Cousins in der Nähe. Mein sechs Jahre älterer Cousin durfte immerhin schon zur Oberschule gehen. Für mich war nach der siebten Klasse die Mittelschule vorgesehen. Und danach war klar, dass ich in der Stadtverwaltung ins Büro gehe – heiraten würde ich ja sowieso.
Ich hätte gerne die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium gemacht. Aber meine Lehrerin hat mich zurückgedrängt, weil ich keinen Vater hatte. Darin war sich mein Großvater, der sie immer eine „alte Jungfer“ nannte und nicht leiden konnte, weil sie mich in den Religionsunterricht schicken wollte, völlig einig mit ihr. Ich entschied mich dann gegen die Mädchenmittelschule und für eine Wirtschaftsmittelschule, ursprünglich wohl eine Jungenschule. Wir waren jedenfalls nur vier Mädchen in der Klasse. Da lernte ich Maschinenschreiben, Steno und Buchführung.
Mit 16 habe ich dann bei der Stadtverwaltung meinen Dienst angetreten, eine Ausbildung brauchte ich als Mädchen ja nicht. Trotzdem war es ein Aufstieg, ich musste ja nicht in die Fabrik. Im Büro war ich mit Abschriften beschäftigt, habe nach Diktat Briefe geschrieben und meinem Vorgesetzten Bleistifte gespitzt und Radiergummis gewaschen. In den acht Jahren in verschiedenen Verwaltungsstellen stieg ich in der Gehaltsskala langsam auf, zwischendurch war ich als Au-pair-Mädchen in England, das war damals noch selten. In meiner ersten Stelle erzählte mir die Hausfrau, dass ihre Eltern etliche Dienstboten gehabt hätten. Worauf ich fragte, warum sie denn jetzt keine mehr habe. Darauf antwortete sie: ‚Dafür haben wir doch dich’. Damit war dieses Intermezzo beendet, ich wechselte die Stelle.“
Mitte der sechziger Jahre, noch bevor die Studentenbewegung ins Rollen kam, heiratete Gisela Notz, weil man damals auch in Berlin, wo der Freund studierte, nicht unverheiratet zusammenleben konnte. Sie suchte sich eine Stelle und wurde Lehrstuhlsekretärin an der Technischen Universität, wo sie zwar keine Radiergummis mehr waschen musste, dafür aber auf dem Bunsenbrenner das Essen für ihren Chef warm machen sollte. Doktoranden, die ihre Promotion absolviert hatten, wurde in ihrem Beisein von ihm mit „Glückwunsch zur Menschwerdung“ begrüßt. Irgendwann wurde ihr klar, dass sie „keine diktierten Texte, sondern lieber eigene schreiben wollte“. Aber noch war die Zeit nicht reif. Als 1966 die erste Tochter geboren wurde, zog sich Notz einige Jahre auf Haushalt und Kindererziehung zurück, begann in einer Bürgerinitiative zu arbeiten und eine Eltern-Kinder-Gruppe aufzubauen.
Eine Hausfrau war das Normalste der Welt
„Das Hausfrauendasein war damals völlig selbstverständlich für mich. Erst als ich nach dem Scheitern der Ehe in eine Wohngemeinschaft gezogen bin, kam da die Idee auf, ich könnte doch das Abitur nachmachen. Plötzlich gab es neue Bildungswege für Erwachsene. Viele gingen aufs Abendgymnasium, ich entschied mich dafür, das Begabtenabitur abzulegen. 1972 begann ich an der TU Industriesoziologie, Arbeitspsychologie und Erwachsenenbildung zu studieren, neben meiner Halbtagstätigkeit, zunächst in einer Familienberatung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, später am Pädagogischen Zentrum. Es war selbstverständlich für mich, dass ich weiter arbeite, ich hätte, weil ich zu alt war und aus anderen Gründen, wahrscheinlich kein Honnef – ein Vorläufermodell des Bafög – bekommen.
Ohne die Bildungsreform hätte ich nie studiert. Und sie wurde, trotz Sputnik-Schock und den Bedürfnissen der Wirtschaft, gerade von der Studentenbewegung und der aufkommenden Frauenbewegung vorangetrieben. Aber man muss dazu sagen, dass eine Vita wie die meine auch eine Aneinanderreihung von glücklichen Umständen war: Da gab es die Wohngemeinschaft, ohne die ich weder den Weg zum Begabtenabitur noch zum Studium gefunden hätte, neben Kind und Berufsarbeit. Es gab meine Studiengruppe und Professoren, die gut mit Erwachsenen umgehen konnten, meine Doktormutter hat mich nie wie eine Studentin behandelt. Ich begann mich in der Frauenbewegung zu engagieren. Und ich hatte diesen Halbtagsjob, den ich aus gewerkschaftlicher Sicht gar nicht hätte machen dürfen. Als er auslief und ich nach dem Studium sofort wieder Geld verdienen musste, habe ich mich als wissenschaftliche Referentin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn beworben. Allerdings konnte man damals auch immer noch zwischen drei verschiedenen Stellen auswählen.
Eine Zeitlang galt es noch als Auszeichnung, über den sogenannten Zweiten oder Dritten Bildungsweg aufzusteigen. Es dauerte aber nicht lange, bis plötzlich von der „Bildungsexplosion“ die Rede war und die bildungsbürgerliche Akademikerschicht sauer war, dass man ihnen die Jobs wegnahm. Ich war einmal auf eine Tagung zu einem Jahrestag von ’68 nach Paris eingeladen, auf der mein Vorredner von Discounter-Diplomen sprach und dass man mit unsereins die Straße pflastern könnte. Er hat das natürlich alles eleganter ausgedrückt und ließ es sich nicht nehmen, das auf Französisch auszuführen, um die Unterschiede deutlich zu machen. ‚Ich hätte auch gerne französisch gelernt‘, habe ich damals meinen Vortrag eingeleitet.’“
1951, nachdem der Krieg vielen jungen Männern das Leben gekostet hatte, waren noch ein Drittel aller Doktoranden weiblich; unter den rund 5.200 Promovierenden waren es neun Jahre später gerade noch 800 Frauen. Als Gisela Notz 1979 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung zu arbeiten beginnt, gibt es 3,9 Prozent Professorinnen. Hatte sie mal an eine Uni-Karriere gedacht?
Nach all dem auch noch promovieren?
„Doch, zwischendurch habe ich mir das schon überlegt. Ich konnte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung ja promovieren, obwohl ich das eigentlich gar nicht vorhatte, der Doktortitel war aber die Voraussetzung, um ein DFG-Projekt fortführen zu können. Die Hochschulausbildung war für mich immer mit meiner Arbeit verbunden, nie Selbstzweck gewesen. Ich bin dann bei der Stiftung geblieben, weil ich da sehr viele Möglichkeiten hatte, ich konnte forschen, zwischendurch an der Universität arbeiten und Vorträge halten. Ich hatte allerdings nicht geplant, 28 Jahre dort zu bleiben.“
In den achtziger Jahren erschien die Studie Vielleicht wäre ich als Verkäuferin glücklicher geworden, die auch die Entfremdung zwischen den aufsteigenden Arbeitertöchtern und ihren Herkunftsfamilien in den Blick nahm. Gisela Notz sagt, das habe sie selbst nie betroffen. Nur ihr Onkel habe ihr einmal einen Brief geschrieben, dass es ja nicht nötig gewesen wäre, auch noch zu promovieren, weil sie doch immer ‚gradlinige’ Arbeiter gewesen seien. Hat die Bildungsreform ihr Versprechen für die Frauen nun eingelöst?
Ein Fazit?
„Die Bildungsreform stand ja unter dem Slogan sozialer Gleichheit, die geschlechtsspezifischen Unterschiede spielten kaum eine Rolle. Aber immer wenn man auf die sozial benachteiligten Schichten abhebt, profitieren vor allem auch die Frauen. Oft waren es gerade Sekretärinnen oder Krankenschwestern, die die Chance wahrnahmen, über den Zweiten Bildungsweg zu studieren. 1975 wurde das Experiment Bildungsreform dann abgebrochen, Anfang der achtziger Jahre das Bafög auf Darlehen umgestellt. Schon ein Jahrzehnt später ging die Zahl der Kinder aus der Arbeiterschicht an der Uni wieder drastisch zurück, aber nicht die Zahl der Frauen. Die ließen sich das einmal Erkämpfte nicht mehr nehmen.“
Gisela Notz wurde 1942 im fränkischen Schweinfurt geboren. Nach Bürotätigkeit, Heirat und Geburt einer Tochter absolvierte sie das Begabtenabitur und studierte an der TU Berlin Sozialwissenschaften; dann kamen Wohngemeinschafts- und Projekterfahrungen. Von 1979 bis 2007 war sie Referentin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und engagierte sich in der Frauenbewegung. Sie arbeitet als Publizistin und ist Stiftungsrätin der Bewegungsstiftung
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