Erprobtes Zuspiel

Pflegekompromiss Mit gezielter Irreführung haben die Finanzjongleure der großen Koalition den "großen Wurf" verhindert

Zum Auftakt stand die gezielte Irreführung: Um die als "guten Kompromiss" getarnte Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags um 0,25 auf 1,95 Prozent (für Kinderlose: 2,2 Prozent) zu tarnen, ließ SPD-Chef Kurt Beck am Ende der Ausschussverhandlungen wissen, dass dieser zum 1. Juli 2007 fällige Zusatzbeitrag durch die Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 0,3 Punkte ausgeglichen werde. Belastende Lohnzusatzkosten, so die Erfolgsmeldung, seien dadurch vermieden worden. Unter den Tisch fällt bei dieser Ansage, dass die Pflegekasse nur von den Arbeitnehmern unterhalten, der Arbeitslosenversicherungsbeitrag dagegen paritätisch finanziert wird. Während der Deal für die Unternehmen also eine reale Entlastung verspricht, hält er für die Erwerbstätigen - soweit sie in die Arbeitslosenversicherung einbezahlen - nur einen finanziellen Ausgleich bereit. Für alle anderen - Rentner oder nicht arbeitslosenversicherte Pflichtversicherte - bedeutet er eine reale Belastung. Die Rentner und Rentnerinnen werden es der Regierung zu danken wissen, wenn sich ihre seit Jahren eingefrorenen Altersbezüge de facto auch in diesem Jahr nicht erhöhen, weil die angekündigte Anpassung vom erhöhten Pflegebeitrag sofort wieder aufgefressen wird.

Glaubt man den Koalitionspartnern, sind die Leistungen der Pflegekasse durch diese Jongliererei bis ins Jahr 2014/15 gesichert. Längst überfällig ist die adäquatere Berücksichtigung altersverwirrter Menschen, derzeit immerhin rund eine Million, die bislang durch das Versicherungsnetz fielen, weil sich die Pflegebedürftigkeit vorwiegend daran misst, ob die Betroffenen auf körperliche Grundpflege angewiesen sind. Außerdem soll mit den zusätzlichen Mitteln die ambulante gegenüber der stationären Pflege aufgewertet werden. Wie das konkret aussieht, ist noch offen.

Mit der kleinen Beitragsreform, sollte sie den Bundestag passieren, sind bis zu den Bundestagswahlen 2009 alle großen Würfe auf die Zielmarke erst einmal eingestellt, und es bleibt beim erprobten Zuspiel von Schuldzuweisungen. Demnach ist die große Finanzreform, die die Pflegekasse auf mehrere Jahrzehnte hinaus demografie- und altersfest gemacht hätte, am Unwillen der Koalitionäre gescheitert, die jeweiligen Vorschläge in ein gemeinsames Konzept aufzunehmen. Die SPD konnte sich nicht dazu durchringen, über eine zusätzliche Pauschalprämie einen Kapitalstock aufzubauen, der die Jüngeren später entlasten würde - die heute noch verdrängte "kleine" Kopfpauschale, die nach der Einrichtung des Gesundheitsfonds irgendwann fällig ist, steht bedrohlich am Horizont. Von einer staatlich bezuschussten privaten "Riester"-Pflege, die Ulla Schmidt kürzlich in die Debatte warf, war in den Verhandlungen ebenfalls nicht mehr die Rede.

Im Gegenzug weigerte sich die Union, grünes Licht für die fällige Umverteilung zwischen Privaten und der gesetzlichen Pflegekasse zu geben, um zumindest einen Teil der heutigen Beitragsungerechtigkeiten auszugleichen. Ein heute 40-jähriger Lediger mit 4.000 Euro Bruttoverdienst zahlt derzeit nämlich nur rund 25 Euro für die private Alterspflege, die gesetzliche Pflegekasse würde 78 Euro von ihm fordern. Ungerecht ist dieses System insbesondere auch deshalb, weil die Leistungen der Pflegeversicherung - im Unterschied zur Gesundheitsversorgung - für alle gleich sind. Die privaten Kassen können aus den (niedrigeren) Beiträgen darüber hinaus Rückstellungen bilden, während Mittel der Gesetzlichen auch in die Infrastruktur fließen.

Eine "große" Pflegereform hätte indessen mehr als nur ein zukunftsfähiges Finanzkonzept schultern müssen. Immer noch existiert kein Pflegebegriff, der die Bedürfnisse aller Pflegebedürftigen berücksichtigt. Statt flexible, von den jeweiligen Betroffenengruppen selbst arrangierbare Angebote sind die heutigen Leistungen starr und bürokratisch und gehen an der Lebenswelt der Pflegebedürftigen vorbei. Es gibt viel zu wenig wohnortnahe und niedrigschwellige Hilfs- und Beratungsnetze, um die Menschen möglichst lange in ihrer gewohnten Umgebung zu halten.

In weite Ferne gerückt ist auch eine der Erziehungszeit adäquate und gesetzlich verankerte Pflegezeit mit entsprechendem Lohnausgleich - eine wesentliche Voraussetzung für die Stärkung der häuslichen Pflege. Es ist schon bezeichnend, dass zwar mit rhetorischer Verve über Mindeststundenlöhne von 7,50 Euro - wenig genug! - für Metzger, Friseurinnen und andere Geringverdiener gestritten wird, aber in der gleichen Koalitionssitzung offenbar niemand auf die Idee kommt, einmal den Stundenlohn einer betreuenden Frau, deren altersverwirrter Ehemann, wenn er Glück hat, in Pflegestufe 1 ist, auszurechnen. Hier offenbart sich die ganze Schizophrenie der herrschenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung - es ist eben immer noch ein Unterschied in der öffentlichen Wertschätzung, ob jemand Schweine schlachtet oder Haare kürzt oder ein anderer zuhause dafür sorgt, dass ein alter Mensch halbwegs gut versorgt und bis zum Tod begleitet wird.

Über die öffentliche Wertschätzung der großen Koalition braucht nach diesen Verhandlungen allerdings nicht spekuliert werden. Bald stellen die Alten - ob als rüstige Rentner oder als Pflegebedürftige - qua Masse die Wahl entscheidende Gruppe. Die großen Volksparteien waren von jeher ihr politisches Zuhause. Fragt sich, wie lange noch.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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