der Freitag: Frau Madörin, seit der Finanzkrise redet alle Welt wieder vom Kapitalismus. Doch von feministischen Ökonominnen hören wir nur, dass Frauen genauso bezahlt und in den Chefetagen ebenso vertreten sein sollen wie Männer. Warum mischen sich Frauen nicht in die grundsätzliche Debatte ein?
Mascha Madörin: Das tun sie durchaus, aber sie dringen nicht durch. Bei der Frauenbewegung und den Gewerkschaften hat die Debatte über die Diskriminierung von Frauen in der Erwerbsarbeit eine lange Tradition. Durch sie ist das Thema überhaupt erst öffentlich relevant geworden. Genau das müssen wir für die Care-Ökonomie erst noch schaffen. Es braucht Zeit und gerade in Deutschland herrschen dafür erschwerte Bedingungen.
Warum?
Ich habe den Eindruck, dass der Diskurs in Deutschland stark fordistisch geprägt ist, also von den Erfahrungen mit der Industrialisierung.
Zur Person
Mascha Madörin, 68, ist Ökonomin und lebt in Basel. Gegenwärtig forscht und lehrt sie zu feministischer Wirtschaftstheorie. Ihre Schwerpunkte bilden dabei die politische und die soziale Ökonomie von Care und Gesundheit
Dagegen treibt Feministinnen wie Sie das Thema Hausarbeit schon seit Jahrzehnten um. Trotzdem spielt dieser wichtige Teil menschlicher Arbeit in der volkswirtschaftlichen Theorie bis heute kaum eine Rolle.
Es gibt durchaus Analysen der Sorge- und Versorgungswirtschaft, die weit gediehen sind, und das bereits seit den 1980er Jahren. Diese Analysen nehmen haushaltsnahe Tätigkeiten, Pflege- und Betreuungsarbeit ganz dezidiert ökonomisch in den Blick, müssen nun aber in eine Makroökonomie integriert werden. Es ist richtig, dass Frauennetzwerke fordern, all diese unbezahlte Arbeit in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einzubeziehen. Zugleich haben Feministinnen viel Energie darauf verwendet, Gender-Mainstreaming zu etablieren. So können wir heute Regierungsentscheidungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Frauen und Männer untersuchen. Aber für die Analyse gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge braucht es mehr. Das ist die große Herausforderung, vor der wir stehen: Politische Ökonomie feministisch zu drehen.
Woran fehlt es?
Ich beobachte, dass Care-Ökonomie meistens nur als eine soziale Frage, nicht als eine ökonomische diskutiert wird. Das hat zur Folge, dass Care-Arbeit als zentraler Begriff verschwindet, insbesondere dann, wenn es sich dabei um unbezahlte Arbeit handelt. Wenn wir beispielsweise über Nachhaltigkeit oder über das Grundeinkommen sprechen, ist von Care-Arbeit meist gar nicht mehr die Rede, sondern nur von Care – wenn überhaupt. Ich glaube nicht, dass es überhaupt möglich ist, feministische Ökonomie zu betreiben, ohne die Care-Ökonomie zu thematisieren.
Was heißt das konkret?
Die personenbezogenen Dienstleistungen müssen als eigener Sektor in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abgebildet und die unbezahlte Arbeit miteinbezogen werden.
Welche Bedeutung hat unbezahlte Arbeit Ihrer Ansicht nach heute?
Die Menschen leisten definitiv mehr unbezahlte Arbeit als bezahlte. In der Schweiz macht die unbezahlte Arbeit, in Marktlöhne umgerechnet, mehr aus als das gesamte Arbeitnehmerentgelt, wie es in der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts erfasst ist. Frauen verrichten insgesamt fast siebenmal mehr unbezahlte Arbeit als es bezahltes Arbeitsaufkommen etwa im Gesundheitssektor gibt. Hinzu kommt die bezahlte Care-Arbeit. Allein schon diese Dimension macht deutlich, welche Aufgabe vor uns liegt.
Welche Folgen hätte es, wenn Care-Arbeit in die gesamtgesellschaftliche Rechnung aufgenommen würde?
Linke Feministinnen diskutieren Care-Arbeit meist „nur“ unter dem Aspekt der Ausbeutung. Die Care-Ökonomie geht davon aus, dass Sorgearbeit ein substanzieller Teil der Produktion der materiellen Bedingungen des Lebens ist und damit des Lebensstandards. Meine Berechnungen zeigen, dass der Wert der unbezahlten Arbeit in den Haushalten größer ist als deren Ausgaben für den Konsum! US-Statistiken zeigen beispielsweise eine dreifache Abwärtsspirale für die working poor, die trotz Arbeit armen Menschen: Erstens sinkt das Haushaltseinkommen der Geringverdiener, zweitens gehen die staatlichen Ausgaben für die Daseinsvorsorge, für Schulen oder Krankenhäuser, zurück, all das also, was den Haushalten gratis vom Staat zur Verfügung gestellt wird. Und vor allem steht drittens den Armen immer weniger Zeit zur Verfügung, um für das Wohlbefinden der Haushaltsmitglieder, Erwachsener wie Kinder, zu sorgen. Denn die Menschen müssen, um ein bestimmtes Einkommen zu erzielen, immer mehr Erwerbsarbeit leisten. Die Folgen dieser dreifachen Abwärtsspirale sind noch gar nicht absehbar.
Aber sind personenbezogene Tätigkeiten überhaupt vergleichbar mit normaler Industriearbeit?
Eine vielbeachtete britische Studie zur Beschäftigungsstruktur in den USA hat 2013 gezeigt, dass in Zukunft 47 Prozent aller Arbeitsplätze durch Robotik ersetzt zu werden drohen. Aber es gibt Arbeit, die nicht ersetzt werden kann: Jobs, die auf Kreativität, sozialer Intelligenz oder auf „der Wahrnehmung und Manipulation irregulärer Objekte“ beruhen. Bei der Care-Arbeit kommt hinzu, dass diese sogenannten irregulären Objekte Menschen sind. Die sie betreffende Arbeit, etwa im Gesundheitswesen, müssen wir besonders genau betrachten, wenn wir Care-Arbeit ökonomisch analysieren wollen: Man kann immer schneller Autos bauen. Aber man kann eben nicht immer schneller pflegen. Das heißt in der Folge, dass die Arbeitsproduktivität der beiden Sektoren immer weiter auseinanderdriftet. Das wirft für wirtschaftlich weit entwickelte Länder neue ökonomische Fragen auf.
Das heißt, dass das, was sich derzeit im Gesundheits- und Pflegebereich abspielt, von großer strategischer Bedeutung ist?
Ja, davon bin ich überzeugt. Und die Frage wird in der Linken in dieser Hinsicht irreführend diskutiert, es geht meines Erachtens nicht primär um das Verhältnis von Staat und Markt, sondern um die nur begrenzte Standardisierbarkeit der Care-Arbeit und den fatalen zentralstaatlichen Versuch, sie bis ins Detail zu kontrollieren und zu rationieren. Historisch wurde das Problem gelöst, indem Care-Arbeit außerhalb der kapitalistischen Marktsphäre organisiert und an die Frauen delegiert wurde – oder an Mägde, Leibeigene oder Sklaven und Sklavinnen. Ich befürchte, dass das, was gegenwärtig im Gesundheitsbereich durchexerziert wird, prägend sein wird für die zukünftige gesellschaftliche Organisation der Care-Ökonomie.
Wenn der Produktivitätsanstieg in einem wichtigen und wachsenden Bereich begrenzt ist, dann hat das doch Auswirkungen auf die gängigen Vorstellungen von Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt.
Der öffentliche Diskurs dazu ist irreführend, weil zu sehr makroökonomisch gedacht wird, auch in der Linken. Es wird mit durchschnittlicher Produktivitätserhöhung und Kaufkraftentwicklung argumentiert oder allgemein mit Profit.
Was ist die Alternative?
Keynes und auch Marx unterschieden in ihrer Betrachtung der Gesamtwirtschaft zwischen verschiedenen Sektoren mit eigenständigen ökonomischen Logiken. Das unterscheidet ihre Analysen wesentlich von neoklassischen Theorien. Diese Überlegungen könnte man auf die unbezahlte Arbeit anwenden, indem man Care-Ökonomie insgesamt oder eben die unbezahlte Arbeit in der Gesamtrechnung eigens auswiese. Ich habe mich bei meinen Berechnungen für die bezahlte und unbezahlte Care-Ökonomie als eigenständigen Wirtschaftssektor entschieden, eben weil mich die Besonderheiten des Arbeitsprozesses und die damit verbundene Produktivitätsproblematik interessiert.
Keynes hat anlässlich des Zweiten Weltkriegs versucht, neben der marktwirtschaftlichen Produktion die Ökonomie des Staates in das gesamtwirtschaftliche Kalkül zu integrieren. So wollte er die Finanzierbarkeit von Aufrüstung und Krieg analysieren. Könnte das auch ein Modell für die Care-Ökonomie sein?
Ja, durchaus. Es gab damals Diskussionen über die Frage, ob staatliche Investitionen in die Rüstungsindustrie und Ausgaben für die Armee ökonomisch vergleichbar sind und statistisch gleich erfasst werden sollten wie die staatliche Finanzierung des Gesundheits- oder Bildungswesens. Wäre es nicht richtiger, anstelle des Bruttoinlandsprodukts das, was davon letztlich in den Haushalten ankommt als die entscheidende Größe zu betrachten? Ebenso wurde schon über die Einbeziehung unbezahlter Arbeit in die Berechnung des Lebensstandards nachgedacht.
Aber sind das nicht nur statistische Spielereien?
Bei Statistiken geht es immer um Politik, um Prioritäten und um das Aufzeigen von Missständen. Statistiken sind die Voraussetzung, um ökonomische Dynamiken zu verstehen und faktenbezogen über die Zukunft der Care-Ökonomie zu diskutieren. Was passiert, wenn man die Größenordnungen nicht kennt, wenn man nicht weiß, dass für das Aufziehen von Kindern etwa in der Schweiz jährlich viermal mehr an bezahlter und unbezahlter Care-Arbeit aufgewendet wird als für Kranke in Spitälern, Pflegeheimen und zu Hause? Dann hat man eine völlig falsche Vorstellung von den Generationenlasten und der Verteilung von Arbeit. Ohne derartige Analysen kann man aber zu keinen vernünftigen wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen kommen. Unbezahlte Arbeit nur als den Hinterhof des Kapitalismus zu beschreiben, bremst einen im Denken. Marx hat die Wirtschaft aus der Sicht der Lohnarbeit analysiert, ich rolle sie aus der Sicht der Care-Ökonomie auf.
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