Biotope sind Lebensräume, in denen vor dem Aussterben bedrohte Arten überleben. Naturgemäß wecken Biotope die Forscherneugier, denn es ist für jede unter Mutationsdruck stehende Spezies wichtig zu wissen, unter welchen Bedingungen sie sich erhalten kann oder wie es anderen Arten gelingt, sich - bei Strafe des Untergangs - Anpassungszumutungen zu entziehen. So ist es kein Zufall, dass nach dem Untergang des DDR-Staates gesellschaftspolitische Fährtensucher und Befindlichkeitsanalysten Konjunktur hatten und je nach Profession die neue Gefühls-Topographie vermaßen.
Während die einen die "thermische Differenz" zwischen den beiden deutschen Systemen ausloteten und entweder für den "Druckausgleich" im "Gefühlsstau" plädierten oder aber den Temperaturregler an der aufgeschmolzenen Weltgesellschaft ausgerichtet sehen wollten, erkannten andere in den Ostdeutschen schon wieder eine Avantgarde, der zuzutrauen war, das Trauma positiv zu wenden und sich auf die gesellschaftliche Überholspur zu begeben. Doch unabhängig davon, welches Regulationsmodell dem jeweiligen ethnologischen Entwurf zu Grunde lag, ging es letztlich immer um die Frage gelungener oder verfehlter Synchronisation. Würde sich das unter Anpassungsdruck stehende Teil im "Ganzen" behaupten und - um im Modell zu bleiben - "die Art" in die nächste Generation herüber zu retten können? Oder würde es sich bis zur Unkenntlichkeit anpassen und "tarnen", um am Ende in der "evolutionären Auslese" zu obsiegen?
Der Inbegriff der institutionellen Rettung des Ostens in Form eines Biotops ist heutzutage die PDS. In Berlin kursiert ein hartnäckiges, wenn auch unbestätigtes Gerücht, das besagt, dass die PDS, unabhängig von ihrer Politik, im Osten immer 20 Prozent nach Hause brächte. Diese kämen, so die Vermutung, von den Unverbesserlichen, die die DDR im Rückblick ostalgisch schön redeten oder eben von den Wendeverlierern, die im Zuge der Vereinigung ihren Job verloren haben. Gemeinsam sei beiden, dass sie eigentlich gar nicht im Westen hätten ankommen wollen.
So gesehen, müsste die Hälfte der Ostberliner Bevölkerung, die bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus der PDS ihre Stimme gab, ein Volk von hartnäckigen Verweigerern und Nostalgikern sein. Das mag gerade die Sozialdemokraten, die den Anpassungsschock zu dämpfen versprochen hatten und nun nicht nur vor den Trümmern einer mittlerweile zwölfjährigen Vereinigungspolitik, sondern auch vor einem grandiosen Wahldebakel stehen, aufgestört haben. Also beauftragte Klaus Wettig vom SPD-Verlag Parthas die Autorin Rita Kuczynski, nach den Gründen für das Ostberliner Wahlverhalten zu fahnden; das ist nicht ganz ohne Delikatesse, gehörte die Philosophin, die sich inzwischen als Schriftstellerin etabliert hat, doch gerade jenem "inner circle" an, aus dem sich das einstige DDR-Machtzentrum rekrutierte und mit dem sie in ihrer Autobiographie Mauerblume abrechnete.
Auch der Titel ihres gerade erschienene Buches Die Rache der Ostdeutschen klingt nach Abrechnung. Wendeverlierer im engeren Sinne hat Kuczynski bei ihren GesprächspartnerInnen, die sie nach dem Schneeballprinzip aussuchte und die alle anonym bleiben wollten, nicht gefunden. Am ehesten könnte man vielleicht die gelernte Näherin Helga von VEB Fortschritt dazu rechnen, denn sie hat heute nur noch eine Putzstelle und beklagt, dass sie sich die teuren Theaterkarten nicht mehr leisten kann; aber schon der 37-jährige Fußbodenleger Peter oder der fast gleichaltrige Tierpfleger Michael sind keine Verlierer der Einheit, immerhin hat sich Peter selbständig gemacht, und Michael konnte endlich nach Thailand fahren, um seine geliebten Elefanten zu sehen. Gar nicht zu reden von der Ärztin Marianne, die in gutbürgerlichen Verhältnissen lebt und "mehr Geld hat, als wir brauchen", oder der viel gereisten Ingenieurin Dörte, die sich als "wirtschaftlich orientiert" einschätzt und im Gespräch hofft, dass die PDS nicht den Wirtschaftssenator in Berlin stellen wird, denn "wirtschaftlich ist ja nun gar nichts los bei der PDS." Sind die meschugge, wenn sie einer Partei, der sie eigentlich nichts zutrauen, den Stab in die Hand geben?
Die Mauer will immerhin keiner der zwanzig Ostler zwischen 21 und 71 Jahren, mit denen sich Rita Kuczynski für das Buch in eine fiktive Essenssituation imaginierte, wieder haben. Nicht einmal Lutz, der Parteifunktionär. Obwohl für ihn der 4. November "ein Schock" war, weil er nicht verstand, warum die Leute ihre Ideen und Kreativität nicht in der DDR eingesetzt hatten. Für Helga, die Näherin, war der Mauerfall am 4. November dagegen ein "glücklicher Tag", obwohl sie vom Westen wenig hielt. Wie Helga wollten viele der Interviewten einfach "eine andere DDR", die, wie die Liedermacherin Marianne präzisiert, "nicht einfach in der BRD aufgehen" sollte. Die meisten sind vom Mauerfall dennoch überrascht worden, und die, die aktiv in der Bürgerbewegung waren wie Fritz, der heute als freier Autor eine eher bescheidene Existenz fristet, lächeln heute über die "Blütenträume" des Neuen Forum: Es war, sagt er, "schon um den 4. November abzusehen, wohin es gehen würde."
Die Erinnerungen an den Mauerfall divergieren naturgemäß je nach Alter der Befragten: Während die Älteren meist nur zögerlich den Weg in den Westen fanden, um sich ihr "Begrüßungsgeld" abzuholen, erlebten die Jüngeren den Tag als Kinder, die sich entweder, wie Maja, von den damaligen Lehrern allein gelassen fühlten oder bedauerten, das "rote Halstuch der Thälmann-Pioniere" nicht mehr erhalten zu haben. Sie habe jedenfalls nicht das Gefühl, erklärt die Jura-Studentin Michaela ärgerlich, dass sie von der DDR "einen bleibenden Schaden zurückbehalten habe."
Diesen Ärger teilt sie mit fast allen, die Rita Kuczynski an den dunklen Winterabenden um die Jahreswende 2001/02 getroffen hat: Die Anmaßung der Westler, darüber zu urteilen, wie es in der DDR gewesen sei, wie man sich dort fühlen musste und warum sie es wert war unterzugehen. Die auf diese Weise abgewerteten Ost-Biographien werden umgedeutet und mit trotzigem Stolz verteidigt: "Ich lasse mir die DDR nicht schlecht machen von Leuten, die nicht wissen, wovon sie reden", wehrt sich Lutz, und Ramona, die schon in der DDR gemodelt hat und heute noch erfolgreich ist, bestätigt diese nachgetragene Identitätskonstruktion: "Ich bin erst nach der Wende zum Ostler geworden", erklärt sie. "Ich fand es unerträglich, wie die Westler die Ostler fertig gemacht machen, zum Beispiel mit Witzen."
Sie habe den Eindruck, mit dem Jahr 1995 sei eine Zäsur eingetreten, bekräftigte die brandenburgische CDU-Abgeordnete Beate Blechlinger bei einer Podiumsdiskussion im Willy-Brandt-Haus anlässlich der Buchpräsentation. Bis dahin hätten die Ostdeutschen die westdeutsche Hilfe akzeptiert, danach habe Enttäuschung und das Gefühl der Minderwertigkeit durchgeschlagen und übertriebener Ostalgie Platz gemacht. Beigetragen haben hierzu sicher die tatsächlichen Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West: "Warum", fragt sich der 24-jährige Altenpfleger Olaf stellvertretend, "bekomme ich noch immer nicht hundert Prozent Lohn? Nur weil ich im Osten angestellt bin? Ich mache schließlich die gleiche Arbeit. Warum also habe ich zwanzig Prozent weniger Geld?" Entnervend wird dies besonders empfunden angesichts der Pfründe, die Westler untereinander aufteilen: "Wenn ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank 25 Millionen verdient", empört sich der 71jährige Neurophysiologe Emil, "dann frage ich mich wofür. Es gibt keine Leistung, die so viel wert ist."
Gerade die ältere DDR-Generation, die Fähigkeits- und Leistungsgerechtigkeit als Grundmaxime des Sozialismus betrachtet hatte, unterstellt der PDS, für gerechtere Verteilungsverhältnisse einzutreten und damit ehemalige DDR-Werte zu retten. Ob nun Parteimitglied, Überzeugungs- oder nur Protestwähler, die von den Berliner Verhältnissen angeekelt waren und es den "schamlosen Westpolitikern" zeigen wollten, wird der PDS "mehr Sinn für soziale Gerechtigkeit" (Hannelore, Lehrerin, 78) zugetraut und der Wille zur Selbstkritik, den etwa Sergej (Elektroniker, 58) bei den übrigen Parteien vermisst. "Die Korruption der Politiker in der BRD", erklärt auch Karl-Heinz (Chemiker, 61), "macht mich immer noch fassungslos."
In der Sicht ihrer Wähler erscheint die PDS als konsequente Antikriegspartei, die sich insbesondere für die Belange der Ostler und der "kleinen Leute" einsetzt und mit der Macht weniger verfilzt ist als andere Parteien. Die SPD dagegen wird als "Verräterin" stilisiert, die "unsere Kinder in den Krieg schickt" und das Land "kolonialisiert", während die Bündnisgrünen in der Wahlentscheidung kaum eine Rolle spielen. Lieb gewordene Klischees und gegenseitige Vorurteile bestärken und prolongieren ein "Heimatgefühl", das es so vor der Wende nie gegeben haben kann: "Dass ich heute PDS wähle, hat auch etwas mit Heimat zu tun", bestätigt Marion.
Doch was passiert, wenn dem Biotop das Wasser abgegraben wird und seine Bewohner zur Anpassung an neue Umweltbedingungen gezwungen werden? So manchen der Befragten plagte im Winter die "Angst vor der Realpolitik". Nicht nur Michael hätte Rot-Rot in Berlin lieber nicht gesehen, auch Wolfgang fände eine PDS in der Opposition besser, und Maja, die wie manche ihrer AltersgenossInnen nach dem Vorbild ihrer Eltern PDS wählt, ist unsicher, ob die PDS eine gute Regierungspartei abgibt. Nun müsse die PDS den "Berliner Missstand verwalten", fürchtet auch die Lehrerin Dagmar, und selbst Lutz, der Funktionär, hat "ein bisschen Angst, dass uns die Macht verbiegt." Dann könnte eintreten, was der "Autonome" Fritz vermutet, dass nämlich viele PDS-Wähler von heute morgen die CDU wählen könnten.
Als Sammlungsbewegung für "Ostidentität" und obdachlose Ost-Eliten ist die PDS zweifellos erfolgreich. Sie stellt einen Nährboden zur Verfügung, auf dem sich eine sich ausgegrenzt wähnende, bedrohte Spezies ansiedeln und heimisch fühlen kann. Gerade die diffuse Spezifität dieses Biotops macht den Konkurrenz-Parteien Probleme, denn was sich hier ansiedelt, schöpft nicht, so Rita Kuczynski, in der historischen Wahrheit, sondern im Konsens einer geschöpften Vergangenheit. Die DDR, die im Biotop PDS fortlebt, ist um so wirkungsvoller, als dass die Bilder virtuell und insofern nicht angreifbar sind. Die historische Faktizität wird vom gelebten Bild abgeschmettert.
Am erstaunlichsten ist, dass diese Bilder anziehend wirken auch auf diejenigen, die die DDR nur noch als Kinder erlebt haben und andererseits erklären, dass sie erst spät mit Westlern in Kontakt gekommen seien. Ob sich darin ein verklärtes Kinderparadies spiegelt oder eher eine beschützende Geste den Eltern gegenüber, ist nicht auszumachen. Übereinstimmend jedenfalls behaupten die ganz Jungen, dass der Ost-West-Unterschied in ihrem Leben kaum noch eine Rolle spielt. An ihnen wird sich entscheiden, ob die PDS ein langsam vertrocknendes Ost-Biotop bleibt oder im Stande ist, eine neue politische Spezies hervor zu bringen.
Feuchtbiotop
Geschrieben von
Ulrike Baureithel
Redakteurin (FM)
Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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