Gesunde Rationen

Verteilung nach Postleitzahlen, Tod auf der Warteliste Wie viel medizinische Versorgung leistet sich Europa?

Kein gutes Zeugnis stellten vergangene Woche verschiedene Medizinerverbände der nun seit einem Jahr geltenden Gesundheitsreform aus: Die Qualität habe gelitten, viele medizinische Dienstleister befänden sich in einer existenzbedrohlichen Situation und trotz aller Kostendämpfung sei nicht einmal eine spürbare Beitragssenkung in Sicht. Ob das Hausarztmodell oder die integrierte Versorgung mittelfristig Entlastung bringen, mochten die Lobbyisten nicht prognostizieren.

Sicher ist eines: Die medizinische Versorgung wird, schon aufgrund der rasanten und kostspieligen Entwicklungen in der Medizintechnik, teurer werden, während die verfügbaren Mittel stagnieren oder sogar sinken. Die teilweise drastischen Kostendämpfungsmaßnahmen der letzten Jahre haben nur zu begrenzten Ausgabeminderungen geführt - eine Erfahrung, die auch in anderen europäischen Ländern gemacht werden musste. Eben weil Einsparungen nicht die gewünschten Effekte zeitigen, macht neuerdings ein bislang tabuisiertes Thema die Runde: die Rationierung medizinischer Leistungen. Dieses Gespenst trieb vor einem Monat schon die Teilnehmer der Ethikrat-Jahrestagung in eine erregte Debatte (vgl. Freitag 45/2004), vergangene Woche lud die Enquete-Kommission des Bundestages europäische Experten (und nur eine Expertin), um zu hören, wie andere Länder mit der Mittelbeschränkung umgehen und wie die Leute reagieren, wenn Hüftoperationen nur noch beschränkt indiziert werden, teure Medizin selbst bezahlt werden muss oder eine OP nicht mehr in einem Krankenhaus, sondern ambulant stattfindet.

Im deutschen Gesundheitssystem gilt bislang, dass jede und jeder nach dem letzten Stand der medizinischen Forschung gleichberechtigt und bestmöglichst medizinisch versorgt wird. Dass dies ein eher theoretischer Anspruch ist, hat vor einem Jahr die großes Aufsehen erregende Untersuchung der Soziologin Hilke Brockmann gezeigt, die nachweist, dass schon heute implizite Rationierung stattfindet und alte Patienten beispielsweise nicht mit der gleichen (teuren) Behandlung rechnen können wie jüngere. Das heißt, Ärzte entscheiden über einen höheren oder niedrigeren Standard, ohne sich oder anderen darüber Rechenschaft abzulegen. Ist es aber überhaupt legitim, Kranken eine gesundheitsfördernde oder erleichternde Therapie zu verweigern? Wer entscheidet, wer wann was bekommt? Welche Prioritäten sollen gesetzt werden und welchen ethischen und ökonomischen Prinzipien folgen sie?

Zunächst ist festzustellen, dass die zur Anhörung geladenen Länder (Schweden, Dänemark, Großbritannien, die Niederlanden, Österreich, Schweiz und Israel) sehr unterschiedlich mit ihren gesundheitspolitischen Strukturproblemen und möglichen Rationierungsmaßnahmen umgehen. Die größten Erfahrungen haben die skandinavischen Länder und Großbritannien, wo das öffentliche Gesundheitssystem in der Thatcher-Ära auf einen katastrophalen Tiefpunkt gesunken war und Leistungen, so Sir Micheal Rawlins sarkastisch, "nur noch nach Postleitzahlen verteilt wurden"; zurückhaltender operieren die Alpenländer, vor allem die Schweiz (wo allerdings bestimmte Gesundheitsleistungen ohnehin von jeher Privatsache sind). Die Niederlande wiederum setzen weniger auf Rationierung als auf zunehmende Marktorientierung und zusätzliche private Absicherung.

Wenig überraschend ist weiterhin, dass es in Ländern, wo die Gesundheitsversorgung ganz oder teilweise (wie in Israel) über den Steuertopf finanziert wird, einfacher ist, Rationierungsmaßnahmen durchzusetzen als in Ländern wie in Deutschland mit einem sehr komplizierten, von vielfältigen Interessen bestimmten Gesundheitswesen. Allerdings sind Länder mit steuerfinanzierten Systemen - wie beispielsweise Dänemark, wo es Ende der achtziger Jahre infolge der Rezession zu regelrechten Engpässen und langen Wartezeiten für bestimmte Operationen kam - noch viel abhängiger von der allgemeinen ökonomischen Entwicklung als die ausschließlich einkommensabhängig finanzierten Versicherungssysteme (Deutschland, Österreich). Zwar sei, so Kjeld Møller Pedersen, dort wohl niemand auf der Warteliste gestorben - und wenn, wäre dies kaum öffentlich verhandelt worden. Wenn im Steuertopf also Ebbe herrscht, so das Fazit, müssen Bürger länger auf eine möglicherweise qualitativ schlechtere Versorgung warten.

Eine wichtige Komponente ist auch, ob die Gesundheitsversorgung eher zentral (Israel, Großbritannien) oder dezentral organisiert ist (Dänemark, Schweden, Schweiz). Sowohl in Israel als auch in Großbritannien wird, obwohl auch hier berufsständische Gremien beratend beteiligt sind, eher "von oben" dekretiert, was in einem "Gesundheitskorb" landet; diese Sorge formulierte auch der österreichische Experte Josef Probst. Lena Lundgren indessen stellte am Beispiel des schwedischen Bezirks Östergötland die Tücken vor, die sich beim öffentlichen Aushandlungsprozess einstellen können. Während die Bürgerbeteiligung dort eher schleppend verlief ("kein großes Interesse", testierte Per Carlsson seinen Landsleuten), mischten sich die Dänen offenbar nachdrücklicher in das regional organisierte Prozedere ein. Wie das bei 82 Millionen Einwohnern zu bewerkstelligen und das Thema auch noch vom "Generalverdacht Rationierung" (Christa Nickels) zu entlasten ist, scheint den deutschen Abgeordneten erhebliches Kopfzerbrechen zu bereiten. Ein dankbares Wahlkampfthema ist das jedenfalls nicht.

Denn gleichgültig, ob Leistungen verlagert, begrenzt oder ganz gestrichen werden, es wird immer Menschen geben, die existenziell davon betroffen sind. Um so wichtiger ist es, die Kriterien transparent zu machen, die in ein Priorisierungsverfahren Eingang finden und darüber entscheiden, welche Therapien und Technologien angeboten werden, ob der "sprechenden Medizin" ebenso viel Bedeutung beigemessen wird wie der Medizintechnik, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen ganz aus der Versorgung ausgeschlossen werden und vieles mehr. Womöglich wäre Politikern und Fachleuten zunächst auch aufzutragen, allgemeine Gesundheitsziele zu formulieren, um kurative Medizin, Prävention und Public Health neu zu gewichten. Erst dann kann - öffentlich - darüber verhandelt werden, ob auch "potenziell lebensrettende Techniken", wie der Schweizer Experte Gaudenz Silberschmidt anregte, aus dem Leistungsangebot gestrichen werden.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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