Wäre da nicht Marios verflixte Rechenschwäche gewesen, vielleicht wäre ja alles anders ganz gekommen mit der DDR. Vielleicht wären die Freunde im Osten dann ein Völk chen von Kleingrundbesitzern geworden, Ost-Berlin von innen heraus perforiert oder eingekreist und schließlich von der autonomen Gegenrepublik sanft erledigt worden. »Wir werden denen das Land unterm Arsch wegkaufen, am besten vorm nächsten Parteitag, da sind die so mit ihrem Rummel beschäftigt, dass die das erst merken, wenn's zu spät ist.« Doch, leider, statt der veranschlagten fünfzigtausend Landkäufer hätte es für die subversive Aktion fünfzig Millionen DDR-Bürger bedurft, und anno '75 gab es gerade mal nur zehn, Kinder und Genossen naheliegenderweise abgezogen.
Genaugenommen war ohnehin alles ein blöder Zufall. Die Schicksale »am kürzeren Ende der Sonnenallee«, jenen lächerlichen sechzig Metern jenseits der Mauer, verdankten ihre realsozialistische Existenz nämlich einzig dem Umstand, dass Churchill während der Potsdamer Konferenz die Zigarre ausgegangen war. So jedenfalls erklärt sich Micha Kuppisch die Tatsache, in einer Straße zu wohnen, deren niedrigste Hausnummer die 379 war. Micha ist altersgerecht ganz doll verliebt in Miriam, die ein zufällig uneheliches Kind ist, weil ihr Papa kurz vor der Hochzeit auf der Baumschulenstraße falsch abbog und plötzlich beim Grenzübergang Sonnenallee landete. Dort kriegte der cholerische Mann echte Probleme mit den Grenzern. Bis die Hochzeit dann wiederholt werden konnte, war Miriam schon auf der Welt und seither etwas ganz Besonderes, denn alle Jungs stehen Schlange bei ihr.
Da weder Micha noch seine Freunde sich was trauen, sondern ersatzweise die Partei zur Vorhaut der Arbeiterklasse erklären; und weil Miriam ihrerseits verbotenerweise mit Westzungen flattert, finden sich Micha und Miriam, wie der Zufall es eben so will, beim Ritual der Selbstkritik hinter der Bühne zu einem großen Versprechen zusammen. Eingelöst wird es von Miriam so wenig wie dieses ganze Sozialismusdingsda von der Partei, und so bleibt Micha und mit ihm den siebzehn Millionen DDR-Bürgern (abzüglich siehe oben) nur die Hoffnung: Auf Onkel Heinz aus dem Westen und seine legal geschmuggelten Peanuts; und auf die besseren Zeiten, wo Miriam ihren Micha westzungengeübt wachküssen wird. Bis dahin vertreibt man sich die Zeit damit, dem »Wuschel« und seiner frischgepreßten »Stones« hinterherzujagen, »Eingaben« zu planen oder im Gemüseladen Sonnenallee anzustehen. Wie aus dem »Jemüseladen ost« ein Gemüseladen auf Westniveau und schließlich ein Laden mit DDR-Jemüse wurde, ist ein weitere Geschichte, in der Udo und Olav aus dem Tal der Ahnungslosen eine führende Rolle spielen.
Thomas Brussigs einverständig unernste Variante jüngster »Vergangenheitsbewältigung« ist tränentreibend komisch; so lange jedenfalls, wie man sich den Kulttönen und Reliquien der ostdeutschen Jugend-Szene der siebziger Jahre hinzugeben bereit ist: Vom unwiderstehlichen AWO-Sound (dem einstigen Kultstück der Motorradfans,) über den Underground-Hit Moscow, Moscow bis hin zu der existentialistisch verbrämten, piafangereicherten »Komm-aus-dem-Arsch«-Philosophie, aus deren Geist das Landkauf-Projekt geboren wurde. Mit Am kürzeren Ende der Sonnenallee hat der Autor des vor Jahren gefeierten Stückes Helden wie wir eine weitere Kostprobe ostdeutsch intonierter Selbstverarschung geliefert, die sich rechtfertigt einzig aus dem Umstand, dass die abgedankte Macht nicht mehr zurückschlagen kann.
In Brussigs Mauerkomödie treten die Mächtigen nur auf in der vergleichsweise harmlosen Verkleidung des ABV (für Vergessliche und Westdeutsche: des Abschnittbevollmächtigten); die Stasi in der folgenlos-komischen Variante des Bestatters; die Mauer figuriert lediglich als lästiges Liebesverhinderungsmobiliar, das sich ansonsten unauffällig und störungslos in den DDR-Alltag einpaßt. Dass auch die Westler von jenseits der Mauer dem Spott nicht entgehen, und von den »Zonis« als Idioten vorgeführt werden, rehabilitiert dieses methodische Verfahren rückwärtsgewandter selbstironischer Verklärung nicht. Es liegt eine trügerische Harmlosigkeit über dem Land und den Erinnerungen der Menschen.
»Glückliche Menschen«, resümiert der allwissende Erzähler am Schluß, »haben ein schlechtes Gewissen und reiche Erinnerungen.« In der wohligen Erinnerung findet sich das depravierte Publikum dann zusammen, und sei es auch nur aufgrund des Zufalls, vor vierzig Jahren am kürzeren Ende der Sonnenallee, eben auf der »falschen« Seite, gelandet zu sein und den kürzeren gezogen zu haben. Trösten kann man sich damit, dass es auch anders hätte kommen können.
Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee. 156 Seiten. Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 28,- DM
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.