Die Berliner, befand Walter Benjamin in seiner berühmten Besprechung über Franz Hessels literarischen Spaziergang durch Berlin 1929, seien „andere geworden. Langsam beginnt ihr Gründerstolz auf die Hauptstadt der Neigung zu Berlin als Heimat Platz zu machen. Und zugleich hat in Europa der Wirklichkeitssinn, der Sinn für Chronik, Dokument, Detail sich geschärft.“ Nun hat sich der „Wirklichkeitssinn“ Europas mittlerweile wohl eher auf die Details ökonomischer Abgründe verlagert, doch was Berlin betrifft, scheint Benjamins Diktum ganz aktuell, denn mit dem abflauenden Hauptstadt-Hype bringt die Metropole eine eigentlich verloren geglaubte Figur wieder hervor: den Flaneur.
Die durch die Großstadt schweifenden Literaten, die das in der Bewegung Wahrgenommene reflexiv filtern und eine Form „flanierenden Denkens“ erzeugen, haben jedenfalls Konjunktur. War Franz Hessel bislang meist nur Experten ein Begriff, hat sein Sohn, der kürzlich verstorbene Stéphane Hessel, eher unabsichtlich für dessen Wiederentdeckung gesorgt. In Hessels Fußstapfen wandeln nun so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie David Wagner (Welche Farbe hat Berlin), Annett Gröschner (Walpurgistag) oder Albrecht Selge (Wach), nachdem bereits Bodo Morshäuser oder Cees Nooteboom tiefschürfende Stadterkundungen vorgelegt haben.
Oberflächenerscheinung
Dass „der oberflächliche Anlass, das Exotische, Pittoreske“ einer Großstadt besonders auf den Fremden wirkt, wusste schon Benjamin. Wohl auch deshalb sind die meisten Berlin-Flanierenden Angeschwemmte oder Durchreisende, auch sie Touristen in einem weiteren Sinn (siehe Text oben). Eine mit der Stadt ein besonderes Verhältnis unterhaltende, sich selbst so bezeichnende „Flaneuse“ ist die aus der Slowakei stammende, seit ihrer Kindheit in Zürich lebende Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa: „Die Stadt“, zitiert sie sich selbst mit einer vor zehn Jahren entstandenen Notiz, „ist im Umbruch wie ich. Wir gehören zusammen.“ Daran habe sich nichts geändert.
Von Oktober 2010 bis Juli 2011 war Ilma Rakusa, die mit ihren an Benjamin erinnernden „Erinnerungspassagen“ mit dem Titel Mehr Meer den Schweizer Buchpreis erhielt, Gast im Berliner Wissenschaftskolleg und nutzte diese Zeit, um durch die deutsche Hauptstadt zu streifen. „Berlin und Schönheit“, stellt sie fest, „das ist zweierlei.“ Wohl wahr! Aufgerissene Blicke nennt sie ihr tagebuchförmiges Berlinjournal und verweist damit auf einen Wahrnehmungsmodus, der wie bei aufreißendem Himmel flüchtige, rasch vergängliche, illuminierende oder verstörende Einblicke zu geben verspricht, die sich dann skizzenhaft auf einem Reißbrett widerspiegeln.
Ganz wie der von ihr zitierte Gewährsmann Franz Hessel gibt sich auch Rakusa den Oberflächenerscheinungen der Stadt hin, wenn sie durch die unterirdischen Gelasse des Berliner Nahverkehrs streicht, sich unter die Bettler in den Bahnhöfen mischt oder sich über die Verkäufer von Obdachlosenzeitungen und die unzähligen Straßenmusiker wundert. Sie bedauert den Verlust einer Galerie, die der grassierenden Gentrifizierung zum Opfer gefallen ist, stolpert im Winter über vereiste Gehwege, die sie „in ihrer Ungeräumtheit“ ans einstige Leningrad erinnern, oder spaziert im Frühjahr über den Kreuzberger Türkenmarkt. Für die Stadtwanderin spielt das Wetter eine wichtige Rolle: Ist es schön, treibt es sie auf Straßen, Plätze oder auf Friedhöfe, regnet es, wandelt sie durch Ladengalerien oder shoppt in den noch vorhandenen kleinen Läden in Berlin-Mitte.
Pflichtprogramm
Dem Gefühl „pausenloser Beanspruchung“ versucht sie sich zu entziehen, indem sie sich in den Modus „pulsierenden Staunens“ versetzt, um den „gesprungenen Oberflächenzusammenhang“ des Stadtalltags, wie es Siegfried Kracauer, ein ebenfalls flanierender Zeitgenosse Hessels, genannt hätte, einzufangen. Aber Rakusa ist zu sehr involviert in und abgelenkt von Museums- und Theaterbesuchen, von den zahllosen Begegnungen mit mehr oder minder berühmten Leuten, von Caffè-Latte-Sitzungen in hippen Lokalen und, pardon, oberflächlichen Betrachtungen über Politik, um das sinnlich Erlebte ästhetisch verfeinern zu können.
Ja, tatsächlich, in Berlin riecht es nicht mehr nach Braunkohle, sondern nach Armut. Aber wie genau riecht sie? Wie fühlt es sich an, wenn man den Inner circle der Stadt verlässt und in die Plattenbauzone vordringt? Wenn die junge Welt um den Kollwitz-Platz oder die bunte der exotischen Märkte endet und wenn die fröhliche oder verschämte Armut nur noch ganz traurig in Erscheinung tritt?
Es gibt durchaus poetische Passagen in diesem Journal, überraschende Sätze wie „Glück liegt im Seinsverb“ und manch unbekannte fotografische Ansicht. Aber „Kleinrussland“, um ein Beispiel zu nennen, am Charlottengrader Küchentisch eingefangen, bleibt einfach zu blass. Vieles wirkt so abgenutzt wie das touristische Pflichtprogramm, das die Autorin im Laufe der Monate absolviert. Am meisten irritiert jedoch, dass die distanzierten Kurzberichte von der Fukushima-Katastrophe eingebettet sind in lange, engagierte Erörterungen über Kulturereignisse. Die Dialektik von Weltblick und „Stadtstube“ (Benjamin) findet bei Rakusa nicht recht zusammen.
Aufgerissene Blicke. Berlin Journal Ilma Rakusa Literaturverlag Droschl 2013, 118 S., 16 €
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