Hier spricht eine leicht verderbliche Ware

Erinnerungsboom Das Berliner Zeitzeugenbüro hat Hochkonjunktur - doch wie erleben sich Menschen, die mehrmals wöchentlich die immer gleiche Geschichte erzählen und wenig Einfluss auf das Produkt haben?

Gesucht werden Männer, die 1945 auf den Seelower Höhen gegen die vorrückende Sowjetarmee gekämpft, und Frauen, die einmal einen Liebesbrief an Hitler geschickt haben; gefragt sind aber auch Kriegs-Deserteure oder Flüchtlinge, die es 1945 nach Berlin-Kreuzberg und Friedrichshain verschlagen hat; Interesse wird angemeldet an Juden, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt, oder Menschen, die die Verfolgung von Juden in Cottbus miterlebt haben; und wer 1935 schon fern gesehen hat, soll sich ebenfalls melden - das dürfte der schwierigste Suchauftrag sein, denn 1935 gab es überhaupt noch keinen nennenswerten Fernsehbetrieb.

Die März-Ausgabe des Zeit-Zeugen-Briefs liest sich wie der Bestell-Zettel an einen Gemischtwarenladen: Neben stückweise "Mauerfall" und einigen Köpfen "Berliner Leben" werden, seitdem der 60. Jahrestag der Befreiung näher rückt, tonnenweise "Krieg und Kriegsende" geordert. Seit Wochen steht das Telefon in der Berliner Zeitzeugenbörse nicht mehr still: Journalisten und Filmemacher aus dem In- und Ausland, außerdem Lehrer und Kulturarbeiter aller Art melden ihre Wünsche nach Augenzeugen an, die das wechselnde Büroteam zu erfüllen versucht. "Kurz vor der Zielgeraden des 8. Mai geht es zu wie in einem Selbstbedienungsladen", schüttelt Thessa Aselmeier den Kopf. "Die kommen einfach daher und sagen, haben Sie nicht mal ... und wir sollen dann liefern - möglichst schnell."

Thessa Aselmeier und ihre Mitstreiter von der Zeitzeugenbörse handeln mit Geschichte, genauer gesagt mit Erinnerungen, dem Stoff, der Geschichte farbig macht. Es ist kein wirklicher Handel, denn bezahlt werden die Auskunftswilligen für ihre Leistung nicht, jedenfalls nicht mit Geld. Der Verein arbeitet ehrenamtlich und stellt aktuell eine Kartei mit 160 Namen bereit, meist Menschen jenseits der 65. Dennoch hat der Vereinsname seine Berechtigung, denn eine Börse ist dem ursprünglichen Sinn nach ein Treffpunkt und Austauschort. Das schwebte auch der Initiatorin Ingeburg Seldte vor, als sie die "Vermittlungsbörse für gelebte Erfahrung" 1993 ins Leben rief. Ihr Ziel war es, alte und junge Menschen ins Gespräch zu bringen. Die Jungen sollten zeitnahe Antworten auf ihre Fragen bekommen, die Älteren sehen, dass das, was sie erlebt haben, für andere von Bedeutung ist und weitergegeben werden sollte.

Kurz vor der Zielgeraden des 8. Mai geht es zu wie in einem Selbstbedienungsladen. Die kommen einfach daher und sagen, haben Sie nicht mal ... und wir sollen dann liefern - möglichst schnell
Thessi Aselmeier

Daran hat sich, auch nachdem die Gründerin vor einem Jahr verstarb, wenig geändert. Den einen geht es wie Michael Berge, der auch als Geschäftsführer des Vereins fungiert, darum, "etwas Sinnvolles zu tun", andere finden es wichtig, dass "Erfahrung nicht verloren geht" und "aus Geschichte gelernt wird". Davon ist nicht nur der frühpensionierte Geschichtslehrer Hansjörg Otto überzeugt, sondern auch Thessi Aselmeier. Ein halbes Leben hat sich die Technische Angestellte als Personalrätin und Behindertenbeauftragte für die Belange der Mitarbeiter der Freien Universität eingesetzt und ist heute noch stolz darauf, "keinen einzigen Prozess verloren" zu haben. Dass sie auf die Zeitzeugenbörse stieß und nun sogar dem Vorstand angehört, war sozusagen Zufall aus Notwendigkeit. Nicht nur fühlte sie sich nach ihrer "Zwangsverrentung", wie sie es nennt, unausgefüllt, die engagierte Gewerkschafterin trieb auch der Wunsch: Nie wieder Krieg, Verfolgung und Unterdrückung, die ihre Kindheit geprägt haben.

Ihre Mutter war 1943 verhaftet worden, weil sie den Namen von Thessis jüdischem Vater nicht nennen wollte. Das damals elfjährige Mädchen wurde unter anderem in einem katholischen Kloster versteckt und kehrte 1944 mit ihrer Mutter nach Berlin zurück, wo sie beide die Bombardierungen überlebten. Von diesen Erlebnissen erzählt sie den Schülern, mit denen sie lieber zu tun hat als mit Medienleuten. In der Schule, sagt die Frau mit der zögernden Stimme, die im Problemkiez Rollbergviertel auch als Lesepatin aktiv ist, habe sie eher das Gefühl, "das Ergebnis steuern zu können". Ihre größte Sorge ist, irgendwie "falsch verstanden zu werden", deshalb gibt sie sich auch größte Mühe bei der Vorbereitung eines Schülergespräches.

Das sieht ihr Zeitzeugen-Kollege aus dem Osten der Stadt, Gerhard Rietdorff, ganz anders: Schule sei Zeitverschwendung, erklärt er gleich zu Anfang kurz und bündig und klagt über uninteressierte, uninformierte Kids, die "nicht mal in der Lage sind, eine klare Frage zu artikulieren". Im Unterschied zu Thessi Aselmeier, für die das persönliche Gespräch Ausgangspunkt der Erinnerungsarbeit ist, hat Rietdorff, der durch einen Fernsehbericht auf die Zeitzeugenbörse kam, seine Erlebnisse schon früher aufgezeichnet: "Ich halte gerne fest, was war". "Freischreiben" nennt er das und zeigt auf die säuberlich aufgereihten Hefter, die er in seiner kleinen Plattenbauwohnung am Alexanderplatz sammelt. Ob das für andere einen Wert hat, interessiert ihn dabei weniger. Und den Wunsch, "Erfahrung weiter zu geben", erklärt er abschätzig als typisches Syndrom von Alleinstehenden, die sich nur reden hören wollen.

Die Filmleute teilen mir noch nicht einmal mit, wann der Sendetermin ist. Dann sitze ich hinterher stundenlang hier und schaue Fernsehen, ob vielleicht etwas kommt. Da fühle ich mich manchmal dann schon als Objekt, benutzt und weggeworfen
Gerhard Rietdorff

Dabei hat das, was er zu erzählen hat, offenbar einen Wert, denn immer wieder wird der 75-Jährige eingeladen, um beispielsweise von seiner Arbeit als Beleuchter am Berliner Ensemble zu erzählen, damals, als Brecht und Weigel noch lebten. Ans Theater war das Arbeiterkind aus der Hinterhofwohnung, das unter den Nazis die Schulbank gedrückt und der DDR am Anfang ganz ablehnend gegenüber gestanden hatte, durch Zufall gekommen: "Ich war absoluter Antikommunist." Erst durch die Gewerkschaftsarbeit habe er erkannt, dass es "nicht nur schwarz und weiß, sondern eben auch grau" gebe. "Ungebildet, wie ich war, wurde ich dann Vorsitzender der BGL und auf die ABF geschickt", erzählt er, stockt und fragt sicherheitshalber nach: "Wissen Sie überhaupt, was das ist?"

Doch auf der Arbeiter- und Bauernfakultät wurde er schon nach einem Dreiviertel Jahr "geext", und auch seine Arbeit in der Betriebsgewerkschaftsleitung hatte ein Ende, nachdem er beschuldigt worden war, "feindliche Propaganda in die Arbeitsgruppe" getragen zu haben. Deshalb sollte er sich als Fahrkartenkassierer für Stadtrundfahrten bewähren und "Arbeiterbewusstsein" erwerben: "Eine Idiotie, wo ich doch aus dem tiefsten Proletariat stammte." Immerhin kam ihm dann wieder der Zufall zupass, und er wurde Stadtführer am Checkpoint Charlie, wo er bis zur Wende West-Reisebusse in Empfang nahm. Englisch und Spanisch und Stadtgeschichte brachte er sich selbst bei. Damals formte sich wohl das, was ihn viele Jahre später dann auch zur Zeitzeugenbörse führte: Er wollte den Leuten von der DDR so zu erzählen wie sie war, und nicht, was sie aus Medienberichten "zusammengefressen" hatten. Also doch eine Art von Mission? Ja, vielleicht. Und wenn er die DDR auch nicht zurückwünsche, habe er das, was jetzt ist, nie gewollt.

Dass er "noch Ideen vom Sozialismus hat", obwohl er 30 Jahre lang mit der Partei im Clinch lag, macht ihn unter den Zeitzeugen-Kollegen ein wenig zum Außenseiter, zumal bei denen, die "wie die Frau, die durch den Tunnel geflüchtet ist", nichts mehr von der DDR wissen wollen. "Einige Leute mögen meine Ansichten nicht, aber wenn einer da ist, der mich mag und mich ruft, gehe ich sofort", umschreibt er den Konflikt, der aus den unterschiedlichen Deutungsansprüchen an das Erlebte resultiert. Auch Thessi Aselmeier "platzt gelegentlich der Kragen", wenn sie das Gefühl hat, dass die NS-Geschichte von Zeitzeugen verdrängt wird: "Ich kann einfach nicht gelten lassen, wenn jemand sagt, er habe nichts gewusst. Das ist das Produkt eines unglaublichen Verdrängungsprozesses." Vielleicht würde sie darüber auch mit Gerhard Rietdorff streiten, der die Erwachsenen bei Kriegsende nur als "unreif und hysterisch" wahrgenommen hat und "seine Leute" sogar ein bisschen in Schutz nimmt: "Die Menschen, die den Nazis folgten, waren doch überwiegend Arbeiter und ungebildet, die wussten es doch gar nicht besser."

Doch wie fühlt man sich, wenn man alle paar Wochen und im Moment sogar alle paar Tage einen "Termin" hat und dort von etwas berichten soll, was 60 Jahre zurückliegt. Gerhard Rietdorff scheint damit weniger Probleme zu haben als seine Mitstreiterin, vielleicht, weil sie auch am Telefon sitzt, Namen nennt und sich vorstellt, wie der oder die jetzt "den Koffer auspackt" und immer wieder die gleiche Geschichte erzählt. "Das löst ein gewisses Befremden bei mir aus. Da gibt es das Bedürfnis, immer wieder zu erzählen und das Erzählte löst sich dann los, das eigene Leben ist nur noch Repräsentation", erklärt sie, für die es wichtig ist, "authentisch" zu bleiben. Die literarisch Interessierte hat darüber viel nachgedacht und zitiert Marguerite Duras: Eine einmal aufgeschriebene Geschichte ist nicht mehr deine Geschichte, sondern eine andere, eben erzählte Geschichte, sie verselbständigt sich, wird etwas ganz anderes.

Zumal, weil die Zeitzeugen es in der Regel nicht in der Hand haben, was aus dem Erzählten am Ende gemacht wird. Wenn die Sprache auf Medienleute kommt, regt sich der sonst ruhig wirkende Rentner regelrecht auf und fängt an zu berlinern, was er sonst gar nicht leiden kann. Rietdorff erzählt, wie er einem Journalisten einmal von seinen Nachkriegserlebnissen in Berlin berichtete, das war "natürlich furchtbar mit der sowjetischen Soldateska, die über unsere Frauen und Mädchen hergefallen sind und unsere Wohnungen geplündert und vollgeschissen haben. Ich habe aber auch einen erlebt, der mir das Leben gerettet hat oder einen anderen, der mir eine Flasche Schnaps geschenkt hat, das bedeutete für mich damals eine Woche Essen. Und eben das wurde dann weggelassen, es wurde nur das Furchtbare erwähnt, das finde ich richtig unverschämt, denn da steht ja mein Name dafür." Die Journalisten seien zwar immer höflich und freundlich, aber noch nie habe er hinterher die Zeitung mit dem Ergebnis erhalten, die Filmleute machten sich noch nicht einmal die Mühe, ihm mitzuteilen, wann ein Bericht, in dem er vorkommt, gesendet wird: " Dann sitze ich hinterher stundenlang hier und schaue Fernsehen, ob vielleicht etwas kommt. Da fühle ich mich manchmal dann schon als Objekt, benutzt und weggeworfen." Er habe sich aber abgewöhnt, "irgendetwas zu erwarten".

Von solchen Erfahrungen kann auch Thessi Aselmeier ein Lied singen, auch sie bekommt nur selten Rückmeldung. Gerade ist ein Zeitungsbericht über sie erschienen, mit dem sie gar nicht einverstanden ist, "lauter Fehler und Ungenauigkeiten - und diese Sprache!", empört sie sich. Die Nutzer, davon ist sie überzeugt, haben kein wirkliches Interesse, ihnen ginge es nur um das Produkt und darum, die Seite zu füllen. "Ihnen ist gar nicht bewusst, dass es sich bei uns um eine leicht verderbliche Ware handelt". Vielleicht, dass sich gelegentlich einmal ein Lehrer intensiver mit ihnen beschäftigt, das komme schon vor. Für die Zeitzeugen sei so ein Interview-Termin ja immer wieder "ein Hocherlebnis, die denken sogar manchmal, sie hätten einen Freund gefunden, aber so ist es eben nicht."

Dennoch glaubt sie, dass die meisten Zeitzeugen nicht im Verein arbeiten, weil sie einsam sind. "Das sind meistens ganz selbstbewusste Leute aus allen Schichten." Wer sozial isoliert sei, käme nicht zu ihnen, der schaffte das gar nicht. "Es ist unheimlich schwer, alte einsame Leute zu mobilisieren", weiß die theaterbegeisterte Frau, die "nebenher" noch eine Seniorentheatergruppe betreut.

Gerhard Rietdorff dagegen genießt den kommunikativen Aspekt seiner Tätigkeit schon. Er lebt allein, schreibt und malt, seine Wohnung ist voll von seinen "Naiven", die er aber nicht verkauft, "ich kann mich einfach von keinem trennen." Dennoch freut er sich, wenn ihn ab und zu jemand besucht, um ihn zu interviewen. Und es sei auch sehr schön, wenn man mit den anderen zusammensitze und Erfahrungen austausche: "Alle haben das Gleiche doch verschieden erlebt."

Dabei kann "der Weg zurück" manchmal auch schmerzhaft sein. "Da begegnet man", erinnert sich Thessi Aselmeier, "merkwürdigerweise seinen Verlusten, nicht seinen Erfolgen. Menschen, die nicht mehr da sind, Stimmen, die du nicht mehr hörst, Dinge, die du nicht mehr siehst, weil sie nicht mehr vorhanden sind. Für mich war das am Anfang ziemlich schlimm. Das musst du erst einmal aufarbeiten." Traumatische Erlebnisse könne man in der Funktion als Zeitzeuge jedenfalls nicht verarbeiten, ist sie überzeugt, das müsse vorher passieren oder parallel in einem anderen Zusammenhang. Ihre eigene Rolle sucht sie in einem Bild auszudrücken: "Wissen Sie", und macht die eine Hand klein, "hier bin ich mit meiner Geschichte, einsam und allein, und dort" - sie macht die andere Hand groß - "ist die Geschichte. Ich werfe vielleicht sogar einen Schatten. Das ist wichtig - aber nur in Bezug zur Geschichte."

Kontakt:


Zeitzeugenbörse


Eberswalder Straße 1, 10437 Berlin


Tel. 030-44046378, Fax 030-44046379


e-mail: zeitzeugenboerse@aol.com


www.zeitzeugenboerse.de


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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