Himmlers williger Buchhalter

Gröning Einer der letzten NS-Prozesse ist zu Ende, der Angeklagte erhielt eine vierjährige Haftstrafe. Doch darum ging es in diesem Verfahren nicht
Ausgabe 29/2015
Angeklagt wegen Mordes an 300.000 Menschen: Oskar Gröning
Angeklagt wegen Mordes an 300.000 Menschen: Oskar Gröning

Foto: Ronny Hartmann/AFP/Getty Images

Es war ein berührender Moment, als sich der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, 2001 öffentlich bei acht Auschwitz-Überlebenden, darunter auch Eva Mozes Kor, entschuldigte. Sie war mit ihrer Schwester eines von vielen Opfern der berüchtigten Zwillingsexperimente, die der Lagerarzt Josef Mengele in Block XVI in Auschwitz durchführte, tatkräftig unterstützt von einem Vorgänger der Max-Planck-Institute, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin-Dahlem. Kor verband mit dieser symbolischen Entschuldigung damals die Hoffnung, dass das, was in Auschwitz geschehen ist, als Tatsache anerkannt und in der deutschen Erinnerung aufbewahrt würde.

Nun ist Eva Mozes Kor noch einmal aus den USA nach Deutschland gereist, nach Lüneburg in der Heide. Als Nebenklägerin verfolgt sie seit April dieses Jahres den Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning, der zwischen September 1942 und Oktober 1944 im KZ Auschwitz II (Birkenau) damit beauftragt war, das Eigentum derjenigen, die gleich an der Rampe für die Gaskammer selektiert wurden, wegzuschaffen und zu registrieren. Ein zahlengläubiger kleiner Bankangestellter, der zu einem „Buchhalter des Todes“ wurde. Nur drei Mal, behauptete Gröning wenig glaubhaft im Prozess, habe er an der Selektionsrampe gestanden. Er bekenne seine „moralische Mitschuld“, sagte der einstige Unterscharführer, „mit Demut und Reue vor den Opfern“. Max Eisen, ebenfalls Auschwitz-Opfer und Nebenkläger, kann ihm nicht vergeben. Eva Mozes Kor sieht das anders: Gröning versuche zumindest, mit seiner Schuld umzugehen.

Kleine Verbrecher-Chargen

Ob sich der gebrechlich wirkende 94-Jährige des Ausmaßes seiner Schuld tatsächlich bewusst ist, wird kein Gericht je ermitteln können. In Lüneburg ging es nur um die Feststellung seiner juristischen Schuld. Und das ist juristisch kompliziert, denn Auschwitz war im Unterschied zu Sobibór, BełŻec oder Treblinka nicht ausschließlich ein Vernichtungs-, sondern auch ein Zwangsarbeitslager. Die ersten großen zur Ermordung vorgesehenen Judentransporte erreichten Auschwitz erst im Jahr 1942. Das Gröning zur Last gelegte Verbrechen, als kleines buchhalterisches Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie am Tod von 300.000 Menschen, vorwiegend ungarischen Juden, beteiligt gewesen zu sein, vor Gericht zu bringen ist erst in den letzten Jahren möglich geworden. Denn bislang mussten Staatsanwälte den Nachweis erbringen, dass ein Angeklagter an einem konkreten Mord beteiligt war, was im Falle des Funktionspersonals nur bedingt möglich ist.

Das geht zurück auf eine Rechtsauffassung, die in der Nachkriegszeit die kleinen Verbrecher-Chargen von den NS-Führern abzugrenzen versuchte. Das „Fußvolk“ wusch sich unter dem Vorwand des „Befehlsnotstands“ rein, und eine prinzipiell täterfreundliche Rechtsprechung, Amnestien und die rückwirkende Verjährungsregelung von 1968 sorgten dafür, dass viele Täter nicht belangt wurden. Zumindest die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft hatte, trotz oder gerade wegen der Auschwitz-Prozesse der 60er Jahre, wenig Lust, in den Abgrund zu schauen, dem sie gerade entkommen war.

Mit dem Demjanjuk-Prozess setzte im Jahr 2011 ein Wende in der strafrechtlichen Beurteilung ein, gestützt auf die unermüdlichen Ermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Nach der Öffnung der sowjetischen Archive hatte sie neues Material und Auftrieb erhalten. Der als einer der „Trawniki“, als „fremdvölkisch Hilfswilliger“ in Sobibór tätige Wachmann John Demjanjuk etwa wurde zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen „Beihilfe zum Mord“ verurteilt. Das Urteil wurde allerdings nicht mehr rechtskräftig, weil er vor Abschluss des Revisionsverfahrens beim Bundesgerichtshof starb.

Auch Oskar Gröning hätte schon 1977 vor Gericht stehen können, wenn die zuständige Frankfurter Staatsanwaltschaft gewillt gewesen wäre, seinen Fall zu verfolgen, statt die Ermittlungen 1985 einzustellen, „mit teils grotesken“ juristischen Argumenten, wie der Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler, der mit vier weiteren Juristen die Nebenkläger vertritt, vor dem Lüneburger Gericht zu Protokoll gab. Auch Rechtsanwalt Thomas Walther, der an der Aufklärung des Demjanjuk-Falles beteiligt war, kritisiert die Unterlassungen der damaligen Strafverfolgungsbehörden scharf: „Die hatten den Fall nicht begraben, sondern verscharrt“, sagte er der Süddeutschen Zeitung.

Symbolische Geste

Die Lüneburger Staatsanwaltschaft hat in Grönings Fall dreieinhalb Jahre Haft gefordert, das Gericht verurteilte ihn nun zu vier Jahren. Das hat im 70. Jahr nach der Befreiung von Auschwitz ohnehin eher symbolische Bedeutung. Denn egal ob und wie viel der betagte Mann davon noch absitzen muss –, 22 Monate sollen bereits als verbüßt gelten – es geht um die Feststellung, dass „Hitlers willige Helfer“, die nicht unmittelbar an den Morden beteiligt waren, nicht nur moralisch, sondern auch juristisch zur Verantwortung gezogen werden können.

Dass den Nebenklägern, die selbst kein konkretes Strafmaß genannt haben, dreieinhalb Jahre zu wenig erscheinen, schmälert die Bedeutung dieser Botschaft, die auch auf die internationale Strafgerichtsbarkeit Einfluss haben wird, nicht. Der Gröning-Prozess wird wohl als einer der letzten großen NS-Prozesse in die Justizgeschichte eingehen, denn von den wenigen Dutzend Fällen, die noch zu verfolgen wären, wird kaum einer vor Gericht landen: Die Täter sind zu alt oder zu krank, um noch verhandlungsfähig zu sein.

Auf dem Campus der Freien Universität Berlin, in der Nähe der Räumlichkeiten des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts, wurden im Juli vergangenen Jahres übrigens Skelettüberreste von mindestens 15 Personen gefunden, wahrscheinlich Teile von Leichen, die der KZ-Arzt Josef Mengele regelmäßig aus Auschwitz nach Berlin schickte. Sie wurden ohne weitere Untersuchung, und offenbar ohne die Max-Planck-Gesellschaft als Rechtsnachfolgerin einzubeziehen, lapidar in einem Berliner Krematorium eingeäschert, als ob sich die Universität dieses Nachlasses schnell habe entledigen wollen. Nur unweit vom Fundort entfernt hatte sich Hubert Markl bei Eva Mozes Kor und ihren Leidensgenossinnen entschuldigt. Während des Prozesses in Lüneburg hatte diese Oskar Gröning die Hand gereicht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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