Das Baugewerbe hatte ihn zuerst. Ihm folgten die Reinigungs- und Postdienste. Und nun bekommt ihn auch die Pflegebranche: den staatlich verordneten Mindestlohn. Im Rahmen des so genannten Entsendegesetzes müssen in- und ausländische Anbieter von Pflegedienstleistungen Beschäftigten, die Grundpflege verrichten (also Hilfe leisten beim Waschen, Anziehen, Füttern etc.) ab 1. August 2010 einen Mindestlohn von 7,50 Euro (Ost) und 8,50 Euro (West) bezahlen. Auch selbstständige Pflegehilfskräfte aus dem In- und Ausland können dieses Entgelt fordern. Zum 1. Januar 2012 und zum 1. Juli 2013 erhöht sich der Betrag jeweils noch einmal um 25 Cent – womit dann endlich der Stundenmindestlohn von neun Euro (im Westen) erreicht würde, der von den Berufsor
sorganisationen bereits für das Jahr 2007 errechnet und gefordert worden war. Immerhin kommt die Regelung noch rechtzeitig zum 1. Mai 2011. Ab diesem Zeitpunkt sind nämlich alle EU-Angehörige voll freizügig und können in den Grenzen der Mitgliedsstaaten leben und arbeiten, wo sie lustig sind und Jobs finden.Der Mindestlohn ist so etwas wie ein Berufsbarometer, denn er markiert die besonderen Ausbeutungszonen im Geschäft mit der europäischen Wanderarbeit. Dass die von Land zu Land tingelnden Bauhelfer in der Hierarchie ganz unten stehen und dem Reinigungsgewerbe schon immer der Dreck, den es wegputzte, anhaftete, ist bekannt. Einen seltenen Prestigeabsturz haben im letzten Jahrzehnt ungezügelter Privatisierung die Postbediensteten erlebt. Die Pflegeberufe wiederum verzeichnen einen sinusförmigen Anerkennungsverlauf: Nachdem sie in den siebziger Jahren einen bemerkenswerten Qualifizierungsschub erlebt haben und aus der Peripherie reiner Gotteslohn- oder Zuverdienstarbeit ins Zentrum der Normalarbeit gerückt sind, gerieten sie in den letzten Jahren durch den Tarifumbau im Öffentlichen Dienst, durch Privatisierung („McCare“) und Arbeitskräftekonkurrenz zunehmend unter Druck. Wobei Pflegekräfte in der öffentlichen Anerkennungsskala ganz oben stehen und gleich hinter den Ärzten rangieren.Das Pflegethermometer steht auf AlarmWarum aber muss ein Beruf, der hoch angesehen ist, durch einen Mindestlohn vor Lohndumping geschützt werden? Warum werden auf jedem einschlägigen Kongress der absehbar eklatante Mangel an Pflegekräften und die Zustände in der Pflege beklagt? Kürzlich hat das in Köln ansässige Deutsche Institut für Pflegeforschung in seinem neuesten „Pflegethermometer“ alarmierende Zahlen und Feststellungen über den Pflegenotstand in deutschen Krankenhäusern veröffentlicht. Allein im stationären Bereich wurden in den letzten zehn Jahren 50.000 Vollzeitstellen abgebaut. Der Personalmangel bringt es mit sich, dass die verbliebenen Beschäftigten völlig überfordert sind und lange, bevor sie das Rentenalter erreichen, aus dem Beruf ausscheiden müssen. „Es gibt viele junge Menschen“, erzählte eine Auszubildende auf dem diesjährigen Pflegekongress in Berlin, „die den Beruf gerne ausüben würden, wenn die Bedingungen stimmen.“ Und als Bedingungen nannte sie: einen Lohn, von dem man leben kann, Weiterbildungs- und Aufstiegsperspektiven, und die Sicherheit, den Job auch mit 50 noch machen zu können.So aber konkurrieren die verschiedenen Segmente – Kinder-, Kranken-, Alten- und Behindertenpflege – um die wenigen verfügbaren gut Ausgebildeten auf dem Arbeitsmarkt, die umso rarer werden, je mehr sie von anderen europäischen Ländern mit attraktiveren Angeboten abgeworben werden. Am Ende der Skala steht die häusliche Pflege, die von den Angehörigen oft nur noch bedingt oder gar nicht mehr geleistet werden kann. Dann kommen private Pflegedienste zum Zug, die erkannt haben, dass hier ein Zukunftsmarkt Rendite verspricht: Immer mehr immer älter werdende Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Je nach Berechnungsgrundlage prognostizieren Experten im Jahr 2040 bis zu 3,4 Millionen Pflegebedürftige.500.000 Pflegekräfte gesuchtEinmal abgesehen davon, dass das die Pflegekasse vor Probleme stellt – wer soll dann pflegen? Die Zahl der heute rund 800.000 (offiziellen) Pflegekräfte müsste in zehn bis 20 Jahren auf 1,3 Millionen ansteigen, hat der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste ausgerechnet. Um die bald ausscheidenden älteren Kollegen zu ersetzen und den Bedarf abzudecken, hatte dessen Chef Bernd Meurer auf dem Pflegekongress unter bitterer Heiterkeit des Publikums prognostiziert, müsste jeder dritte Schulabgänger künftig in die Pflege gehen. Heute Erwerbslose für den Pflegeberuf zu gewinnen, hat die Bundesregierung, wie der Deutsche Pflegerat kritisiert, gerade wieder einmal in den Sand gesetzt, indem sie beschloss, dass das dritte Umschulungsjahr künftig nicht mehr von der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden kann. Angesichts solcher Entscheidungen „verpuffen politische Aktionen zur Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe“ und blieben, so moniert Präsidiumsmitglied Gisela Bahr-Gäbel, reine „Lippenbekenntnisse“.Für Bernd Meurer, der die Arbeitgeberseite vertritt, ist seit langem klar, dass der Fachkräftemangel ausschließlich über das Ausland gedeckt werden muss. Aber nicht etwa aus den osteuropäischen Ländern, wie die Mindestlohndebatte suggeriert, sondern durch Green Cards für „gut ausgebildete Arbeitskräfte aus Asien und Südamerika“, die er ortsüblich bezahlt sehen will. Wie viele Pflegende aus dem Ausland derzeit schon tätig sind, weiß niemand genau. Gabriele Feld-Fritz, die bei der Dienstleistungsgesellschaft Verdi für diesen Bereich zuständig ist, schätzt, dass in „jedem dritten Keller eines Privathaushalts mittlerweile eine Polin sitzt“. Das mag zwar etwas übertrieben sein, auffällig ist indessen, dass schon jetzt die Zahl derer, die vom Mindestlohn profitieren, zwischen 560.000 und 630.000 schwankt. Diese Unschärfe hängt damit zusammen, dass „haushaltsnahe“ Betreuungshilfen nicht unter den Mindestlohn fallen und die Anbieter die Tätigkeitsprofile nun einfach umdefinieren, um den Mindestlohn zu umgehen. Wie kürzlich aus der Baubranche bekannt wurde, werden sie von EU-Behörden sogar dabei beraten, wie sie landesübliche Gesetze umgehen können.Ein strukturelles Problem von Pflegetätigkeiten besteht darin, dass sie nach wie vor zu 90 Prozent von Frauen verrichtet werden. Sie sind, im Gegensatz zu den Ärzten, schlecht organisiert: Nur zehn Prozent aller Pflegekräfte, schätzt der Deutsche Pflegerat, sind Mitglied in einer Berufsorganisation. Wer es sich als Angehöriger leisten kann, heuert eine „Perle“ an, um die Oma oder den Opa zu versorgen. Das ist menschlich, löst aber nicht das Problem, dass eine Arbeit einfach weiter geschoben wird, die Männer nicht machen wollen. Der Mindestlohn verhindert vielleicht die schlimmsten Auswüchse für diejenigen, die am unteren Ende der Hierarchie stehen, und schlimm genug, dass diese Art von Mindestschutz überhaupt notwendig ist. Am Umgang mit Alten und Kranken, an unserem Negativbild von der alternden Gesellschaft, ändert es nichts.
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