Kürzlich konnte man im Berliner Arsenal-Kino eine bemerkenswerte Wiederentdeckung machen: Die erste Kamera der Geschichte war 1895 auf ein Fabriktor gerichtet, aus dem Arbeiterinnen und Arbeiter strömten. Der Dokumentarfilmer Harun Farocki hat diese nur wenige Minuten dauernde Szene der Brüder Lumière 100 Jahre später adaptiert und den cineastisch vernachlässigten „Arbeitswelten“ – so das Thema der Filmreihe im Arsenal – noch einmal ein Denkmal gesetzt. Gezeigt wurde auch René Clairs 1931 entstandener Musikfilm Es lebe die Freiheit (A nous la liberté), eine bitterböse Satire auf den Fabrikdrill, die die späteren theoretischen Einsichten Michel Foucaults in die drei bürgerlichen Disziplinaranstalten Schule, Militär und Fabrik in höchst ironischen Filmbildern vorwegnimmt.
Allerdings haben sich die Arbeitswelten, seitdem das Kameraauge erstmals auf sie fiel, grundlegend verändert. Dem stumpfsinnigen Taylorismus in den Fabrikhallen, den Clair artifiziell auf die Schippe nahm, folgten „Job Enlargement“ und „Job Enrichment“, also Versuche, die industriellen Arbeitsplätze durch die Kombination verschiedener Tätigkeiten, durch Teamarbeit und flexible Arbeitszeiten attraktiver zu gestalten. Die neue Bürotechnik wiederum verwandelte das einstige Kontor zunächst in einen Ort rationaler Herrschaft, bis der Einzug von Computersoftware, neuen Managementlehren und positiver Psychologie die herkömmlichen Angestelltenarbeitsplätze plötzlich in dienstleistungsorientierte „Agenturen“ ummünzte, in denen die dort Tätigen aufgefordert sind, als „ganze Menschen“ den unabschließbaren „Change“ am Laufen zu halten. Von der alten betrieblich-bürokratischen Planwirtschaft hin zum effizienzgesteuerten Profit Center also; konterkariert wird diese Ablösung allerdings durch die Tatsache, dass ein Fünftel der deutschen Arbeitnehmer überhaupt keine Bindung mehr zu ihrem Betrieb hat und sie bei fast zwei Drittel nur noch gering ausgeprägt ist. So steht es in der aktuellen Gallup-Studie. Up up and away, innerliche Kündigung scheint die Grundhaltung der Beschäftigten zu sein: Ein großer Teil der Arbeitnehmer geht in die innere Emigration, ist demoralisiert oder zynisch, bildet Krankheiten aus. Während die einen unter der Freiheit von Arbeit, also der Arbeitslosigkeit, zusammenbrechen, leiden die anderen offenbar an der Freiheit in der Arbeit. Was ist aus dem Versprechen geworden, das „Reich der Notwendigkeit“ doch noch in ein „Reich der Freiheit“ (Marx) zu überführen? Ist die marxistische Hoffnung auf den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter zum Alptraum des umfassend verfügbaren, sich selbst optimierenden Kreativarbeiters pervertiert?
Agenten der Modernisierung
Der „Kampf um die Arbeitsfreude“ beschäftigte schon die neu aufkommende Einstellungsforschung in der Weimarer Republik: In den Empfindungen der Arbeiter und Angestellten, so etwa Henrik de Man, spiegelte sich das Schicksal der Massen. Der Soziologe Hans Speier sah gerade in der traditions- und „wesenlosen“ Angestelltenschaft die Agenten der Modernisierung. Dabei interessiert heute weniger seine Frage, inwieweit diese neue Mittelschicht den Nationalsozialismus ermöglichte und stützte, sondern ob in der Angestelltenwelt auch heute noch die künftige Welt des Arbeitens aufscheint.
Dieser Frage ist Christoph Bartmann in seinem Buch Leben im Büro. Die schöne neue Welt der Angestellten nachgegangen. Bartmann, Direktor des Goetheinstituts in New York, beginnt mit einem Selbstversuch und dokumentiert den typischen Arbeitstag eines für die neuen Angestellten nicht unbedingt typischen Wissensarbeiters. Als „E-Mail-Junkie“ an der langen Leine seiner Office-Programme, empfindet er sich im Hinblick auf seine eigentliche Arbeit im Büro eigentlich überflüssig, denn zum Arbeiten kommt er erst wieder abends zu Hause. Das Büro dagegen ist der Ort von „Kommunikationsereignissen“, Sitzungen und Besprechungen, die mit der Herstellung, Darstellung und Evaluierung seiner Arbeit zu tun haben. Was Arbeit ist, wird projektiert, formatiert und in Zielvereinbarungen gegossen, beworben und auf den Prüfstand gestellt.
Als Reklamemensch in eigener Sache muss der Wissensarbeiter ein strategisches und taktisches Verhältnis zur Wahrheit entwickeln und lernen, dass „Leistung“ kein objektiv messbarer Faktor mehr ist, sondern abhängig von seiner „Performance“. Er ist Manager des Projekts und seiner selbst und wird nicht mehr beaufsichtigt von befehlenden Chefs, sondern von sanft gängelnden Coaches, die in einem quasi therapeutischen Verhältnis zu ihm stehen. Weil der Arbeitsprozess grundsätzlich immer „floatet“ und nie abgeschlossen ist – dafür bringt der Literaturwissenschaftler Bartmann eine espritreiche Interpretation von Kafkas Prozess in Anschlag –, ist der Arbeitstag auch nie beendet, sondern reicht – selbstbestimmt natürlich! – ins Reich der Freizeit hinein.
Herrschaft des Managements
Der Einzug des „Managerismus“ in die Arbeitswelt, die Kurzfristigkeit der Produktion und die sich ständig ändernden temporären Strukturen – all das führt zu Überforderungen des Arbeitssubjekts, die Richard Sennett schon vor über zehn Jahren in Der flexible Mensch umrissen und dafür den Begriff „Drift“ eingeführt hat. Die schwachen Bindungen – also auch das Phänomen der innerlichen Kündigung – sind geradezu Voraussetzung, um mit den immer oberflächlicher werdenden spezialisierten Arbeitszusammenhängen klarzukommen. Die von Bartmann ebenfalls beschriebene unendliche Flexibilität und Anpassungsbereitschaft zeigt sich im Willen zum ständigen Change – das heißt zum Loslassen, zum ständigen Zerstören des gerade Geschaffenen. Immer wieder Nullpunkt, lautet die Parole, immer wieder die Bereitschaft, sich zu beweisen und sich verletzlich zu machen. Das „lebenslange Lernen“ bleibt letztlich immer ziellos und bedarf ständiger Selbstmotivierung. Die Flut der „positiven“ Ratgeberliteratur ist ein Indiz für diese nie zu beendbare Arbeit am Selbst.
Mit der Übergabe des Büros, der „Agentur“, an den Manager wiederholt sich eine Entwicklung, die Jahrzehnte zuvor bereits den industriellen Produktionsprozess revolutionierte und vom amerikanischen Linkstheoretiker Harry Braverman in einer kaum mehr erreichten Brillanz 1974 beschrieben wurde: Die Arbeit im modernen Produktionsprozess zeigt, wie die Herrschaft des Managements den Techniker und Facharbeiter degradiert und die funktionalen Zusammenhänge der Tätigkeiten gekappt hat.
Auch in den Büros gehen mit der Einführung des Managements die spezifischen beruflichen Fertigkeiten verloren. Dort entwickelt sich eine Klasse von mittelmäßigen angestellten Managern „ohne besondere Eigenschaften“ (Bartmann), die jedoch den Anschein erwecken, Unternehmer zu sein. Bartmann skizziert, wie die Theologie der (Selbst-)Steuerung in den neunziger Jahren den Weg in die Politik genommen – etwa in der Koalition von Blairs New Labour und Schröders „aktivierendem Sozialstaat“ – und einen sozialkybernetisch gesteuerten Umbau des Subjekts in Gang gesetzt hat. Wo Bürokratie war, ist nun New Public Management, sekundiert von Controlling, Screening und Signalling. Und wo der alte Angestellte war, ist nun der fordernde und fördernde Dienstleistungsjünger, der es außerdem gelernt hat, Berichterstatter und Vermarkter in eigener Sache zu sein.
Auf der Kehrseite des Kontraktmanagements lauert die Lüge: Das gilt nicht nur für Jobsuchende, die bei der Zielvereinbarung mit dem Arbeitsberater mogeln, sondern in großem Stil, denn die unendliche Evaluation provoziert geradezu „angepasste Wahrheiten“ – und die Erfüllung des Standards ist ohnehin das Gegenteil von Exzellenz. Dass das „neue Büro“ allerlei Pathologien – von der „passiven Aggressivität“ (Bartmann) über die Sprachzerschlagung durch Power Point bis hin zum luxurierenden Burn-out („Depression des Überflusses“) – hervorbringt und Aufmerksamkeitsgewinner von Gratifikationsverlierern scheidet, ist kaum verwunderlich und belebt wiederum das beratende Gewerbe.
Totale Entfremdung
In der Extremform führt die Managerisierung des Büros zu seinem völligen Zerfall, der sich in der „Raumkrise“ offenbart: Dann arbeiten die einstigen Büroangestellten als digitale Boheme in Transiträumen oder Hallenprojekten, feiern ihre totale Entfremdung als Selbstverwirklichung und pflegen ihr Ressentiment gegen das Büro, sozusagen als Fortsetzung des intellektuellen Kälteprojekts der zwanziger Jahre. Die politischen Folgen solcher Existenzweisen lassen sich derzeit am Höhenflug der Piraten studieren.
Man muss nicht das Lob des alten Büros und seiner Rituale singen wie Christoph Bartmann, um zu erkennen, dass frei floatende Wissensarbeiter auch eine Bedrohung darstellen: Denn in den globalen Hallen und Clubs, wo sie sich tummeln, ist nicht gut Kinder kriegen und besorgen. Hinter der Kühle der Fassade, dem in chronischer Spannung lebenden „schizothymen Charakter“, erkannte der Wiener Sozialpsychologe Gustav Ichheiser schon 1930 die „resonanzbedürftige Existenz“.
Welche Zumutungen die Welt der gläsernen Büros des Risikokapitals bereithält, lässt sich übrigens in Christian Petzolds Film Yella, der die Filmreihe im Arsenal schließt, beobachten. Dass es eine Frauenfigur ist, die die Spannung zwischen Innen und Außen nicht aushält, ist vielleicht eine romantische Vorstellung. Es könnte schon sein, dass Frauen im Großexperiment „neues Büro“ die Widerstands- und Überlebensfähigeren sind.
Leben im Büro. Die schöne neue Welt der AngestelltenChristoph Bartmann Carl Hanser 2012, 320 S., 18,90
Die Filmreihe Arbeitswelten im Kino Arsenal läuft noch bis zum 3. Juli jeden Dienstag um 19.30 Uhr mit jeweiligen Filmeinführungen
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