Kanon

AUTORINNEN-LEXIKON Ein untypisches Kompendium

Um eines gleich vorwegzunehmen: Wer hier sucht, was er schon kennt und vertiefen will, wird enttäuscht werden. Wer etwa über Ilse Aichinger ein Referat schreiben soll oder Profundes über Adrienne Rich wissen will, sollte das Buch wieder zuklappen, denn ihm bleibt die Mühe der Recherche nicht erspart. Das Buch ist kein Kompendium, sondern das, was sein Titel verspricht, ein Lexikon: nötig knapp und notwendig oberflächlich.

Wir lernen, wann und unter welchen Umständen etwa eine Colette gelebt hat, wir erfahren die Titel ihrer Bücher und dass das »Verhältnis von Leben und Werk zentral« ist für das Bild, das wir uns von der Schriftstellerin Colette zu machen haben. Das hätten wir uns vielleicht ohnehin gedacht und wären auch darauf gekommen, dass ihr Werk irgend etwas mit Weiblichkeit zutun hat. Was es mit der modernen Gender-Diskussion auf sich hat und welchen »neuen Blickwinkel« diese auf das Werk der Colette wirft, wie Referentin König behauptet, bleibt allerdings im Dunkel. Wer mehr wissen will, wird auf die Fährte der Biographien gesetzt, wissenschaftliche Sekundärliteratur ist sparsam verzeichnet. Wie gesagt: nötig knapp, notwendig oberflächlich.

Der Anspruch des Autorinnen-Lexika ist nicht Tiefe, sondern Umfang und Vielfalt. Von der Mystik bis zum postmodernen Experiment, verheißt der Klappentext, von Kanada über Südafrika bis Japan, von den Anfängen bis zur Gegenwart; zumindest, soweit es sich um zünftige Frauen der Feder handelt. Die nämlich wurden von den nationalen Literaturwissenschaften allenthalben (von bis, siehe oben) sträflich vernachlässigt und nur bei Nobelpreisverdacht in den Nachschlage-Kanon aufgenommen. Die Literaturgeschichte meiner Schulzeit zählte an die 15 Damen unter ungezählten Dichterfürsten.

Bleibt der Anspruch: Umfang und Vielfalt. Zunächst beeindruckend. Von Hildegard von Bingen und Shikibu Murasaki (um die Jahrtausendwende in Japan) über Katharina von Rußland (die Staatsfrau!), Johanna Schopenhauer und Maria Edgeworth bis hin zu Calixthe Beyala (Kamerun) und Joan Riley aus Jamaika. Namen über Namen, von denen man höchstens jeden dritten vielleicht schon mal gehört hat, geschweige denn das zugehörige Werk zur Kenntnis genommen. Das liegt nicht nur an den eurozentrischen Beschränktheiten (auch der Rezensentin), sondern hat objektive Gründe: Mehr noch als bei den schreibenden Männern haben Frauen - vor allem wenn sie aus den von Europa »abgelegeneren« Teilen der Welt stammen - wenig Chancen, übersetzt zu werden. Schreiben sie in einer europäisch-kolonialen Sprache, ist es noch vergleichsweise einfach; wenn sie aber in eigener Zunge formulieren, auf berberisch etwa, urdu oder vietnamesisch, wie die 1947 geborene Thu Huong Dwong, sind die Chancen, im literarischen »Zentrum« wahrgenommen zu werden, gering. Der letzte Fall ist noch in einer anderen Weise typisch. Die Nordvietnamesin Dwong erklärt, sie sei »gezwungenermaßen Schriftstellerin, um die Menschen in ihrem Land wachzurütteln und zum eigenständigen Denken zu bewegen.«

Autorschaft als politischer Auftrag ist aber gerade in den ehemals sozialistischen und postkolonialen Ländern kein Sonderfall - und eben so werden sie, zum Nachteil der Werkrezeption, im Westen oft genug wahrgenommen.

Vielfalt ja, aber weit entfernt von Vollständigkeit. Welche Zufälle bei der Aufnahme dieser oder einer anderen Autorin regierten, wissen höchstens die vier Herausgeberinnen. Was sie in Zusammenarbeit mit an die 150 Literaturwissenschaftlerinnen (und einigen Kollegen) aus West und Ost vorgelegt haben, ist dennoch bemerkenswert, weil das Lexikon den typischen europäisch-anglo-amerikanischen Kanon verläßt und sich auf Neues einlässt. Da ist es auch zu verschmerzen, dass die Qualitätskriterien nicht immer nachvollziehbar sind, und die Germanistin nicht unbedingt versteht, weshalb der Unterhaltungsschriftstellerin Vicki Baum ein eigenes Kapitel gewidmet wird, während andere zeitgenössische Autorinnen wie Gabriele Tergit oder Anna Gmeyner leer ausgehen.

Ein bedauerlicher Mangel ist das - freundlich ausgedrückt - sparsame Vorwort. Hier hätte man sich eine umfassendere Einleitung gewünscht, die die annoncierten literarischen »Ungleichzeitigkeiten, Verschiebungen, Überschneidungen und Beeinflussungen« gebündelt und für die Leserschaft ausgebreitet hätte. Die höchst kursorischen Erläuterungen hinterlassen den vielleicht ungerechten Eindruck, als hätten die Herausgeberinnen kapituliert vor dem eigenen Unternehmen. Ganz zu Unrecht.

Metzler Autorinnen-Lexikon. Hg. von Ute Hechtfischer, Renate Hof, Inge Stephan und Flora Veit-Wild. 617 Seiten. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 1998, DM 68,-

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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