Kein entspanntes Verhältnis

Nachfrage Die bürgerliche Gesellschaft wird immer rigider. Nun soll auch noch der Sex befriedet werden
Ausgabe 48/2013

In längst vergangenen Zeiten nannte man einen Freier einen Bräutigam, der um eine Frau warb. Es war Martin Luther, der als Initiator der protestantischen Ethik den Begriff in die deutsche Sprache einführte. Im Laufe der Jahrhunderte sank der Freier – wie übrigens auch die Dirne, die im Mittelhochdeutschen noch auf eine Jungfrau verwies – allmählich ins Konsumentenmilieu der käuflichen Sexualität hinab.

In den radikaleren Phasen der Neuen Frauenbewegung hatte man noch ein provokanteres Verhältnis zu normativen weiblichen Lebensentwürfen. Damals wurde Prostitution nicht als Gewerbe inkriminiert, sondern das Institut der „prostituierenden“ Ehe, durch das sich Männer eine umfassende Versorgung sicherten. Dieser Zustand dauerte immerhin bis ins Jahr 1997. Erst da wurde Vergewaltigung in der Ehe endlich zu einem Straftatbestand erklärt.

Die Erinnerung an diese Ursprünge ist nützlich, wenn heute wieder einmal über Prostitution gestritten wird. Denn in der gleichen Phase, wie sich Ehefrauen nach und nach der sexuellen Verfügbarkeit entzogen, formierten sich die Huren zusammen mit der Frauenbewegung, um sich schließlich in den Neunzigern als freie Unternehmerinnen zu etablieren. Passend zum neoliberalen Zeitgeist.

Deren Gewerbefreiheit zu schützen, fordert die eine Fraktion einschließlich der Betroffenen selbst. Die Prostitution wiederum mit Reglementierungen und Verboten zu belegen, wollten die anderen, die selbsternannten Frauenbeschützer. Das ist übrigens eine ganz ähnliche Koalition wie schon um die Wende zum 20. Jahrhundert, als sich Teile der ersten Frauenbewegung und männliche Sittenwächter verbündeten.

Vagabundierende Körper

Die „Ächtung und Bestrafung der Freier“ fordert Alice Schwarzer nun in einem platten Umkehrschluss, als ob das Acht und Bann von den Prostituierten nähme. Dass sich ausgerechnet Bernd Ulrich in der Zeit und Volker Zastrow in der FAS in diese Phalanx eingereiht und zu Beauftragten unterdrückter Weiblichkeit aufgeschwungen haben, würde belustigen, wenn in der Klage über die „Zonen der Anstands- und Gewissenslosigkeit“ (Ulrich) oder die Polemik wider die „Normalisierung“ der Prostitution (Zastrow) nicht etwas mitschwänge, das verdächtig moralinsauer schmeckt: „Sexualität ist keine Handelsware“, proklamiert Zastrow emphatisch, als müsse da ein letzter Rest von Menschsein gerettet werden.

Dabei folgte die Sexindustrie in den letzten Jahrzehnten nur den schon ausgetretenen Schneisen des Kapitals im Anschluss an die globalisierte Welt. Den um den Globus vagabundierenden Arbeitskräften folgen die vagabundierenden Körper, nicht nur in Form des Frauen-, sondern auch des Kinderhandels. Skandalisiert wird das immer dann, wenn die öffentlichen Frauen das Stadtbild stören, wie etwa in Saarbrücken, und zu einert Art Standortproblem werden.

Warum also gerade jetzt wieder eine Prostitutionsdebatte? Es wäre zu viel der Ehre, Alice Schwarzer dieses Verdienst zuzuschreiben. Sie ist von jeher nur das Medium, das ein Lüftchen geschickt in Turbulenzen zu versetzen wusste. Das Lüftchen kommt aktuell aus Frankreich, wo Freier demnächst 1.500 Euro Strafe zahlen sollen, wenn sie sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen – kein Wunder, dass das Gewerbe im grenznahen Saarbrücken aufblüht. Doch die Großwetterlage kommt von weiter her, von einer zunehmend fundamentalistisch gestimmten amerikanisierten Gesellschaft, die in einer eigenartigen unbeabsichtigten sexualpolitischen Allianz mit dem Islamismus zusammen das christlich-liberale Abendland herausfordert.

Die Prostitutionsdebatte fügt sich außerdem nahtlos an das gerade abgeflaute Pädophilie-Tribunal an und operiert auch mit Restriktion und Verbot. Um hier nicht falsch verstanden zu werden und es ganz deutlich zu sagen: Sexualisierte Gewalt ist nicht tolerierbar. Weder gegen Kinder noch gegen Frauen, die als Zwangsprostituierte verschleppt und wie Leibeigene gehalten werden. Aber wie das wieder in Mode gekommene Wegsperren von Sexualstraftätern scheint auch die Tabuisierung und Reglementierung der Prostitution den in den vergangenen 40 Jahren eingeleiteten entspannteren Umgang mit Sexualität, auch in ihren devianten Formen, zurückzuwerfen.

Denn der Schein trügt, und die provozierende „Sexfront“-Bewegung der sechziger Jahre ist nur in Teilen in der breiten Gesellschaft angekommen. Auch wenn sich das Spektrum geduldeter und wohl in kleinen Gruppen auch praktizierter sexueller Ausdrucksformen erweitert hat, ist all das doch in klar definierten normativen Grenzen geblieben. Und inzwischen beschleicht einen das Gefühl, dass die liberale Sexualpolitik der letzten Jahrzehnte im Namen des Opferschutzes nun wieder abgeräumt werden soll.

Viele Widersprüche

Hilfen zum Ausstieg für Prostituierte, fordert der Schwarzer-Appell. Ausstieg, wohin eigentlich? In die Arbeitsnormalität an der Lidl-Kasse oder die Sexualnormalität der Ehe? Gefordert werden auch Gesetze, die den Handel mit Frauen unterbinden; die aber kommen in der Regel aus dem Osten und der südlichen Hemisphäre. Britische Wissenschaftlerinnen haben indessen nachgewiesen, dass der Kampf gegen Prostitution zumindest auf der Insel häufig mit negativen Einstellungen zum Thema Immigration verbunden ist. Schwingt da manche unterschwellige Xenophobie mit?

Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine „richtige“, wirklich „lohnende“, weil vermisste Nähe stiftende Sexualität, wie uns Bernd Ulrich weismachen will, würde zumindest Sexualwissenschaftler erheitern. „Im Kern ist alles Sexuelle chaotisch, asozial, verwahrlost“, desillusioniert Volkmar Sigusch im 77. Fragment seines kürzlich erschienenen Kompendiums Sexualitäten derartige Romantik. Das Bemühen der bürgerlichen Gesellschaft, Sexualität fürsorglich zu befrieden, muss schon deshalb scheitern, weil diese Gesellschaft selbst die krasseste Provokation dessen ist, was sie bekämpft: die Käuflichkeit. Gerade deshalb muss die reine Liebe als Idealvorstellung kultiviert werden, und sie strahlt umso lichter, desto schmutziger das globale Bordell ist.

Männer gehen aus vielen Gründen zu Prostituierten. Die einen finden keine Partnerin, die anderen haben eine, die ihre sexuellen Wünsche nicht erfüllen will oder die sich nicht trauen, sie überhaupt zu offenbaren. Manchmal hat die flexibilisierte Gesellschaft die Frauen auch einfach weit weg entführt. Wenn Männer ins Bordell gehen, brachte es eine Sexarbeiterin in den neunziger Jahren, als der Beruf legalisiert wurde, einmal auf den Punkt, wollen sie keine Quittung für die Steuer, sondern den „Kick“.

Das hat sich vielleicht noch verstärkt in einer Zeit, in der Sexualität immer mehr zur Aushandlungssache geworden ist und die mit Sex immer verbundene Aggression völlig in die Tabuzone verdrängt wird. Sexuelle Wünsche ständig auszuhandeln, kann aber so anstrengend sein wie Treue und Verbindlichkeit, zumal in einer Gesellschaft, die suggeriert, alle Bedürfnisse subito zu befriedigen. Die einen reagieren dann mit zunehmender sexueller Unlust, die anderen mit dem Kauf einer Dienstleistung. Wer will entscheiden, was gesünder ist?

Dass es immer noch fast ausschließlich Männer sind, die den letzteren Weg wählen, hat etwas mit kulturellen Überformungen zu tun – und vor allem mit Geld. Männer gehen in den Puff, Frauen werfen vielleicht lieber einen Blick in die Seitensprung-Börse. Sexuelle Not betrifft beide Geschlechter, und sie verweist auf eine Not der Gesellschaft als Ganzes.

Die bürgerliche Gesellschaft hat das Liebesideal und das Bordell und mit beidem die Doppelmoral hervorgebracht. In der Liebe verspricht sie den Menschen, zu sich selbst zu kommen; im Bordell bleibt sie – käuflich – bei sich. Dieser tief sitzende Widerspruch ist mit einem Verbotsfinger nicht aufzuheben. Aber besonders anmaßend und doppelzüngig ist es zu behaupten, einen leite die Sorge um jene Frauen, die diesen Widerspruch tagtäglich auf der Straße zur Schau tragen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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