Kein Tschüss von der Politik

Machtverlust Neun Jahre war sie Gesundheitsministerin, nun bleibt die Hinterbank im Parlament: Ein Gespräch mit Ulla Schmidt

Was sich mit ihr verband, war ihr ewiges Lächeln. Und der erhobene Zeigefinger, wenn sie Drohposen parierte. Die kamen von allen Seiten. Von der Pharmaindustrie, die nicht wollte, dass man ihre Produkte unter die Lupe nahm; von den Krankenkassen, die ihre Beiträge nicht senkten, und von den Ärzten, die sich gegen ihre „Staatsmedizin“ in Stellung brachten. Im Laufe ihrer fast neunjährigen Amtszeit spürte man die Anspannung unter der fröhlichen Oberfläche. Ganz am Ende, während der leidigen Dienstwagenaffäre, verlor sich das Strahlen ganz.

Zwei Nachfolger sind ihr in nur zwei Jahren im Amt gefolgt, „und es werden noch mehr werden“, sagt Ulla Schmidt, die eigentlich Ursula heißt und einmal dienstälteste Gesundheitsministerin Europas war. Ihr Lächeln wirkt heute wieder gelöst. Kein Dienstwagen mehr, der sie zu dem mit ihr von Bonn nach Berlin gewechselten Italiener bringt. Sie kommt zu Fuß. „Ulla“ ist bekannt und willkommen hier, sie wird mit Küsschen begrüßt, und die Kanzlernische ist reserviert. Sie nimmt unterm Bild Willy Brandts Platz. Der stützt sich auf Bruno Kreisky. Sozialdemokratische Genealogie.

Als sie noch Gesundheitsministerin war, hatte es nie sein sollen mit einem Interview. Nun plaudern wir uns warm über Wolfgang Schäuble, dem Schmidts Heimatstadt Aachen gerade den Karlspreis zuerkannt hat. Er sei in dieser Regierung immerhin einer der Europäer und ein „fairer Verhandler“, sie habe immer gut mit ihm zusammengearbeitet, sagt sie mit ihrer typischen verwaschenen Redefärbung. Ob diese Wahl gerade jetzt allerdings „so glücklich“ gewesen sei, ist sie sich nicht sicher. „Deutschland wird derzeit ja zwiespältig wahrgenommen: Man braucht es, hat aber gleichzeitig Angst davor.“ Und damit sind wir vor der Vorspeise schon mitten in der großen Politik.

Wenn die Märkte hebeln

Als einfache Bundestagsabgeordnete, die mittlerweile „nur“ noch im Ausschuss für Kultur und Medien und im Zivilausschuss des NATO-Parlaments arbeitet, fühlt sie sich dem Souverän verantwortlich. Die auf dem EU-Gipfel kürzlich ausgehandelten Verträge werde man genau prüfen müssen, „insbesondere im Hinblick auf das Budget­recht des Parlaments“, betont sie. „Die EU-Krise ist vor allem eine Krise der Demokratie. Spekulanten entscheiden darüber, welche Regierung überlebt und welche nicht. Die Märkte hebeln die Demokratie aus.“

Ob das denn nicht schon immer so gewesen sei, wundere ich mich. Nicht so offensichtlich, meint sie und bricht eine Lanze für den griechischen Ex-Regierungschef Papandreou und dessen Absicht, das Volk über sein Sparpaket abstimmen zu lassen. „Ich weiß, was es heißt, Einsparungen von einigen Milliarden auf den Weg zu bringen, wie schwierig es ist, die Bürger dafür zu gewinnen.“

Mittlerweile steht das Carpaccio vor ihr. Ulla Schmidt isst so schnell, wie sie spricht. Oft sind es lange Sätze, die gelegentlich in der Luft hängen bleiben und davon handeln, wie ihr als Superministerin für Soziales die Beiträge davonliefen und wie sie sich um die diversen Akteure bemühte, denen man es doch nie recht machen konnte. Und recht hat sie es anfangs allen machen wollen, als sie 2001 die glücklose Grüne Andrea Fischer ablöste. Die war nicht wohlgelitten und dem Kanzler auch zu wenig kontrollierbar. Vielleicht dachte Gerhard Schröder, dass eine wie Schmidt, die eine seit 1983 währende Kärrner-Tour in der SPD hinter sich hatte, sich leichter vor den Karren seiner Kommissionen spannen ließe.

Nie so mein Wunsch

„Das Gesundheitsressort war früher nie so mein Wunsch“, räumt Schmidt ein. „Es war mir schon klar, dass man da immer auf der Verliererseite ist. Wie das wirklich ist, merkt man aber erst, wenn man es macht.“ Und Ulla Schmidt „machte“ es, „ sehr gerne sogar“. Was zunächst hieß, sich in eine unüberschaubare, komplizierte Materie einzuarbeiten. Wer mit Gesundheitspolitik zu tun hat, kennt den gläsern werdenden Blick und die abdriftende Aufmerksamkeit, wenn die Rede auf Globalbudgets, DRGs oder Risikostrukturausgleich kommt. Die einstige Sonderschullehrerin hat es erlebt und geduldig erklärt; manchmal auch weniger geduldig, etwa wenn sich auf Pressekonferenzen Journalisten mit ihr über Grundrechenarten stritten.

Wie ihre Vorgängerin Fischer wurde sie als Nicht-Medizinerin von der Ärzteschaft nicht wirklich ernst genommen. Unzählig die Witzchen, Boshaftigkeiten und Anfeindungen. Dass sie dem standhielt, verdankte sie ihrer Truppe im Ministerium, von der sie sich 2009 dann so schwer trennte. Und einem Selbstbewusstsein, das sich die 1949 geborene älteste Tochter einer alleinerziehenden Fabrikarbeiterin hart hatte erarbeiten müssen. Dennoch, sagt sie rückblickend und in ihren Singsang verfallend, habe sie immer Glück gehabt. „Als ich zur Schule ging, hat man Mädchen auf die Realschule geschickt. Eigentlich wollte ich Ärztin werden, in Afrika oder so. Ich wollte irgendwohin gehen, um den armen Menschen zu helfen.“ 1968 machte sie Abitur, schloss sich der APO an. Die SPD war da noch weit weg für sie.

Afrika. Eigentlich hatte ich ihr eine alte Postkarte mitbringen wollen. Sie zeigt unter dem Motto „Nieder mit dem rhodesischen Kolonialregime“ kleine Kinder mit erhobenen Fäusten, die „revolutionäre Kampfgrüße aus den Lagern der Befreiungskämpfer von Zimbabwe“ senden. Das führt direkt in jene Lebensphase der Ulla Schmidt, die ihr ein Berufsverbot als Lehrerin und den Ausschluss aus der Gewerkschaft eingebracht hatte. Mir selbst blieb das damals qua „Gnade der späten Geburt“ erspart. Aber ähnlich wie ich war Schmidt wohl damals unterwegs, um für „Lastwagen für Zimbabwe“ zu sammeln. Bei der Bundestagswahl 1976 kandidierte sie in Aachen für eine der maoistischen K-Gruppen, den Kommunistischen Bund Westdeutschland, in dem sie, wie sie beteuert, aber nie Mitglied war. Der Cicero, dem sie darüber einmal Auskunft gab, vermerkte hämisch, sie habe ausgerechnet das System bekämpft, das ihr den Aufstieg ermöglichte.Aber sie selbst sagt: „Ich bin in meinem ganzen Leben für Freiheit und soziale Gerechtigkeit eingetreten und für Frieden, international.“ Für den Befreiungskampf in Rhodesien habe sie gestritten und für die westafrikanische Befreiungsorganisation Frente Polisario. „Mir hat das für mein Leben, für die Frage, wie man sich einmischt, viel gegeben.“ Gewaltfrei waren die Befreiungskämpfer in der Regel nicht. Dennoch war es die Gewaltfrage, die sie im Deutschen Herbst 1977 dann auch vom KBW abrücken ließ.

Wir sprechen über das Kollektivgefühl, das sich damals auf Demonstrationen einstellte, wenn man sich von der Masse erhoben fühlte. Spürt sie das auch heute noch, wenn sie auf SPD-Parteitagen „Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’“ singt? „Ja, natürlich, ich fühle mich in der SPD mit Menschen verbunden, mit denen ich für die gleichen Ziele kämpfe, das ist auch ein emotionales Erlebnis.“ Diese Emotionalität hat sie, die sich noch immer als „Linke“ fühlt, ausgerechnet in den „Seeheimer Kreis“ gebracht. Der sei, im Unterschied zu den offiziell Linken im Bundestag, gerade nicht strukturkonservativ.

Die Früchte ernten andere

Sie denke nach vorne, sagt sie. Und ist stolz auf das Erreichte. Stolz auf ihren Aufstieg, stolz noch im Rückblick auf die „immerhin 175 Stimmen“, die sie dem KBW einbrachte. Und natürlich auf das, was sie als Gesundheitsministerin auf den Weg gebracht hat: Hausarztsystem, Chronikerprogramme, Reform der Krankenkassen, Aufbau des Instituts für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit, Pflegereform, sogar auf die elektronische Gesundheitskarte. Wir ersparen es uns, das alles jetzt genauer unter die Lupe zu nehmen. Immerhin: Ulla Schmidt hat dafür gesorgt, dass alle Menschen hierzulande in eine Krankenversicherung aufgenommen werden müssen.

Dass nun andere viele Früchte dieser Arbeit einfahren, ärgert sie. Nein, sagt sie und kratzt heftig auf ihrem Teller herum, sie wolle ihren Nachfolgern keine guten Ratschläge geben. „Uns trennen Welten in der Frage, wie ein solidarisches Gesundheitswesen aussehen muss.“ Erstaunlicherweise ist keine einzige der vielen Reformen mit ihrem Namen verbunden, keine Schmidt-Gebühr, kein Schmidt-Fonds. Weil sie eine Frau ist? „Kann schon sein“, sagt sie lakonisch. „Ich kenne jedenfalls keine Frau, deren Name mit einer Reform verbunden wäre, obwohl viele Reformen von Frauen angeschoben wurden.“

Dass man als Frau in der Politik hart angegangen wird, hat sie im Zuge der Dienstwagenaffäre erlebt. Darüber will sie nicht mehr reden, fängt dann doch an, nur, um gleich abzuwiegeln: „Aber bitte, schreiben Sie das nicht“. Man spürt, dieser Stachel sitzt tief. Dass ihr Vorteilsnahme vorgeworfen wurde, muss sie getroffen haben. Was sie daraus gelernt habe? Privates und Berufliches strikt zu trennen.

Als Ulla Schmidt 1990 in den Bundestag kam, gaben noch die älteren Semester den Ton an. Frauenthemen waren randständig, trotz aller sozialliberalen Reformen. Sie fühlt sich als Nachfahrin jener „Erlebensgeneration“, die den Krieg und den Wiederaufbau der Bundesrepublik miterlebt hat. „Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, die Alten lebten auf unsere Kosten.“

Zwei Enkel, keine Familienfrau

So hat es eine innere Logik, dass Schmidt mittlerweile in einem Ausschuss arbeitet, in dem es auch um Erinnerungskultur geht. Sie hat die Diskussion über das Stasi-Unterlagengesetz begleitet und findet es falsch, Stasi-Mitarbeiter, die man einmal holte, um sich durch das Dickicht zu arbeiten, im Nachhinein zu relegieren. Sie glaubt aber auch an den Exportartikel „Vergangenheitsbewältigung, made in Germany“: „Dass der Irak oder die nordafrikanischen Staaten, die sich mit den autokratischen Strukturen ihrer Länder auseinandersetzen, ausgerechnet uns zum Vorbild nehmen, ist doch spannend“. Und trotz eigener Erfahrungen mit dem Berufsverbot will sie die NPD verboten sehen: „Man kann deren Ideologie nicht vergleichen. Ich finde es unglaublich, dass Rassismus und Nationalismus steuerlich finanziert werden, indem die NPD an Wahlen teilnimmt.“

Langeweile, nun, nach dem Abschied von der Macht? Nee, höchstens mal ein freier Abend. Sie hätte nach der Bundestagswahl 2009 wieder „ja“ gesagt, hätte man sie als Gesundheitsministerin geholt. Eine Familienfrau ist die alleinerziehende Mutter, die nun zwei Enkel hat, noch immer nicht. Ein leichtes „Tschüss“ von der Politik ist bei ihr kaum denkbar. Heute streitet sie für Kultur als Teil der Daseinsvorsorge, für die Umsetzung der Behinderten-Konvention. Im Bundestag hält sie Reden gegen die vorgeburtliche Diagnostik im Reagenzglas, die man in den neun Jahren, die sie als Gesundheitsministerin im Amt war, niemals von ihr gehört hätte. Pragmatismus, sagt sie. Und blickt auf Willy Brandt, der das Unmögliche hatte versuchen wollen, um das Mögliche zu erreichen.

Ulla Schmidt, Jahrgang 1949, ist so alt wie die Bundesrepublik. Sie wuchs in Aachen auf, wo sie 1968 Abitur machte und zunächst Psychologie, dann fürs Lehramt studierte. In den Siebzigern noch auf der äußersten Linken, trat sie 1983 der SPD bei und arbeitete sich in den Bundestag und den SPD-Vorstand vor. Von Anfang 2001 bis zum Regierungswechsel 2009 amtierte sie als Gesundheitsministerin. Seither ist sie Mitglied des Ausschusses für Kultur und Medien und Berichterstatterin im NATO-Parlament.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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