Kontrollverlust in Hellersdorf

Berlinromane Die jungen Frauen langweilen sich. Und entdecken den neuen Charme der sexuellen Unterwerfung

Früher gaben Frauen aus der Mittelschicht, denen nach dem Flüggewerden der Kinder der Lebenssinn abhanden gekommen war, die erzählerische Folie für weibliche Midlife-Krisen ab. Meist wohnten sie in ruhigen Vororten, hatten „beste Freundinnen“ und einen nicht immer treuen, aber beruflich erfolgreichen Ehemann. Blättert man durch einige Romane der vergangenen Saison, begegnet man einer Unzufriedenheit, die an diese Vorläufer erinnert: allenthalben weibliche Figuren, die plötzlich den Faden zu ihrer bisherigen Existenz zu verlieren scheinen und nur noch Statisten sind in „ihrem eingebildeten Leben, das ranzige Kulissen nötig hat“, wie die 1971 geborene Anke Stelling ihre Protagonistin räsonnieren lässt.

Dabei handelt es sich, und das ist das Beunruhigende, keineswegs um Frauen „mittleren Alters“, sondern um Vertreterinnen der spezifischen Thirty-Something-Generation, die in den hippen Berliner Bezirken residieren, sich in kreativen, meist irgendwie theaterverwandten Berufen versuchen und Partner haben, denen man einen Seitensprung ohnehin gar nicht zutraut. Hinter den renovierten Fassaden, vor denen die Kinderwägen so stolz geparkt werden wie einst der Audi 80 vor dem Familienbungalow, lauert die neue Langeweile. Und die Sehnsucht nach Ausbruch aus dem Mittelmaß.

Der anziehende Gernot

Im Unterschied zu ihren Großmüttern haben diese hoffnungsvollen Sprösslinge der 68er-Generation jedoch aufgeklärte Eltern, die alles daran setzten, ihre Töchter selbstbewusst ins Leben zu schicken. Elke in Anke Stellings Roman Horchen beispielsweise hat ihrer Tochter Katja die Fähigkeit mitgegeben, „in sich reinzuhorchen“, auch wenn sie beim obligaten Berlin-Besuch die Enkel anmahnt, und Katja sich, um der lustlos betriebenen theaterwissenschaftlichen Promotion zu entkommen, gerne von Lars ein Kind machen ließe, wenn sie nicht gerade mit ihrem ältlichen Doktorvater das Bett teilt. Doch Lars kocht lieber „Trostspaghetti“ und schaut Tatort, was die junge Frau schließlich in die Flucht treibt. Sie besucht ihren ehemaligen Pastor, der in die ostsächsische Provinz strafversetzt wurde, nachdem er schwäbische Mädchen angegrapscht hatte.

Was Katja genau bei ihm sucht, weiß sie nicht, schließlich war sie schon als Jugendliche selbstbewusst und aufgeklärt genug, um sich Reinhardts Übergriffen zu entziehen. Aber „irgendwo muss das Gleis hinführen“, auf das sie gesetzt wurde. In Kamenz trifft sie nicht nur den einstigen Mentor wieder, sondern stolpert auch über den anziehenden Gernot, der im Pfarrhaus lebt. Hatte Katja mit ihm nur einen One-Night-Stand im Sinn, muss sie feststellen, dass Gernot anders ist als die Männer, mit denen sie es bisher zu tun hatte. Er dagegen gewinnt, indem er ihre ungezielte Sehnsucht und Suche erkennt, Macht über sie.

Während sie ein Verhältnis beginnen, in dem er der „Führer“, sie die „Geführte“ ist und seinen unberechenbaren Reaktionen emotional ausgeliefert, reaktiviert Katja, ganz Mutantin der schwäbischen Mutter Elke, den Bestand an Lebensweisheiten und Kochrezepten. Um ihm zu gefallen, begleitet sie Gernot sogar in seine evangelikale Sekte, unterwirft sich eigenartigen Ritualen und seinen sexuellen Exzessen und verliert allmählich die Kontrolle. Dass da einer kommt, der ihr sagt, wo es lang geht, bereitet Katja schmerzhafte Lust: „Sie ist klein, hilflos, vertrauensvoll“, ein gläubiges, kein „billiges“ Mädchen mehr. Sie „kann einfach alles mitmachen, entgegen aller Warnsignale.“

Anke Stelling breitet diese Amour fou, im Unterschied zur bösen Persiflage über die Prenzlauer-Berg-Bohème, ohne Ironie aus, als doppelter Boden fungiert die aus Katjas Unterbewusstem geschöpfte schwarze Pä­da­gogik weiblicher Zurichtung – Märchen, Kalendersprüche und die Versatzstücke religiöser Unterweisung –, über der das aufgeklärte Bewusstsein nur als dünne Legierung liegt. Kommt bei der gebürtigen Ulmerin Stelling der neue Charme der sexuellen Unterwerfung im Gewand fortschreitender Selbstaufklärung daher, agiert die Ich-Erzählerin im Roman der fast gleichaltrigen Berlinerin Katja Oskamp aus ironischer Selbstdistanz und macht die Spannung zwischen Theaterleben und inszenierter Lebensrolle fruchtbar.

Eines Abends läuft die namenlose Protagonistin bei ihrem Freundespaar Tina und Peter auf. Sie hat ihren Mann Micha, Theaterkritiker und liebevoller Vater von Tochter Paula, spontan verlassen, aus Überdruss. Tina tingelt als Schauspielerin durch eine Vorabendserie und bei ihren nun anhebenden Vorwürfen wird das einverleibte Drehbuch zum Stichwortgeber: „Hast du kein Herz? Micha geht es so schlecht. Und Paula braucht ihre Mutter.“ Dann aber fällt „ein Krümel der Pflegemaske aufs Parkett“ und macht „die Einstellung unbrauchbar.“

Kein Mann der Mitte

Wie Stellings Katja flieht auch diese Erzählerin aus der stuckbestückten Prenzlauer-Berg-Wohnung mit der teuren Kaffeemaschine und landet in einer Kaschemme mit dem Titel gebenden Namen „Hellersdorfer Perle“. Zufällig begegnet sie dort einem älteren Mann, der sie trotz seiner Geh- und Hörbehinderung anzieht und an ihren ehemaligen Schauspielerfreund Karl erinnert: „Dieser Mann wusste alles über mich.“ Der Unbekannte fordert sie auf, wiederzukommen – in Korsett und Strapsen.

Die Ich-Erzählerin, die selbst aus der „Ost-Platte“ stammt und ihren Vater bei den Aktivistenwochenenden begleitet hat, geht auf den Vorschlag ein, erscheint in voller Hurenmontur. So verkleidet, ist nun alles erlaubt, „Nuttenzeugs“, „Gewaltkram“, alles „was wir doch eigentlich abgeschafft hatten“. Während der Unbekannte sie hinterrücks bearbeitet, fahndet die so Hergenommene im Fußbodenmuster nach „Übergängen“, nach einer Ordnung in dieser über sie hereingebrochenen Begierde.

Und natürlich bleiben die Exkursionen auch vor Micha nicht geheim, der sich zurückzieht und das Ganze versucht „auszusitzen“. Dass das Paar dann bei einem Theaterbesuch die Hellersdorfer Szenen noch einmal auf der Bühne vorgeführt bekommt, ist nicht nur für die Ich-Erzählerin, sondern auch für die Leserin irritierend, weil sich plötzlich die Realitätsebenen verwischen: Was ist hier Phantasieproduktion, welche Rollenprosa authentisch?

Leider löst Oskamp dieses schön inszenierte Verwirrspiel wieder auf, und der geheimnisvolle Mann „bestimmt“ und übernimmt „die Führung“. Er fasziniert, weil er „die Mitte auslässt“, „alles Durchschnittliche“, an dem die jungen Metropole-Bewohnerinnen so leiden. Und damit es auch der Letzte versteht, setzt die Autorin noch eins drauf: „Niemals war der Mann dort anzutreffen, wohin all die Tinas und Peters und Michas strebten, im Konsens, im Kompromiss, im Zentrum des Zeitgeists.“

Bei Oskamp und Stelling finden die Ausflüge ins „Unerhörte“ versöhnliche Ausklänge, keine Tragödie, kein bühnentaugliches Finale. Das liegt vor allem an den Larsens, Peters und Michas, den „zweiten Müttern“ oder älteren Brüdern ihrer Kinder. Sind sie so „kastriert“, diese jungen Männer, dass sie schon vor Verfallszeit ausgemustert werden? Das wäre dann tatsächlich dramatisch.

Hellersdorfer PerleKatja Oskamp Roman, Eichborn, Frankfurt am Main 2010, 218 S., 18,95

HorchenAnke Stelling Roman, S. Fischer, Frankfurt am Main 2010, 221 S. 18,95

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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