Leben ohne Vergangenheit

Neue Konzepte gefragt Die Jahrestagung des Nationalen Ethikrats stellt sich der Altersdemenz

Beim sozialpolitischen "Runden Tisch" der Großkoalitionäre steht derzeit auch die Zukunft der Pflegeversicherung auf dem Programm: Sollen die satten stillen Reserven der Privatkassen in die Gesetzliche Pflegeversicherung überführt werden, wie die SPD es will, oder wird das Pflegerisiko mit einem neuen, möglicherweise verpflichtenden Riester-Modell abgesichert, wie es der Union vorschwebt. Egal, worauf die Verhandlungen am Ende hinauslaufen, sicher ist: Die Debatte wird - ganz ähnlich wie in der Familien-, Renten- oder Gesundheitspolitik - etatistisch geführt. Pflegerische Qualitätskriterien, ethische Prinzipien und die Lebensrealität der alten Menschen - wer kann und soll die Pflege leisten, wie holt man die Pflegebedürftigen aus ihrer sozialen Isolation und wie sichert man ihre medizinische Versorgung - spielen nur am Rande eine Rolle. Einig ist man sich höchstens darüber, dass für die derzeit 1,2 Millionen Demenzkranken, die erst seit kurzem spezifische Leistungen aus der Pflegekasse erhalten, weiterer Handlungsbedarf besteht.

Die Situation dieser Patientengruppe wird sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte noch dramatisieren. Denn in dem Maße, wie die Lebenserwartung der Bevölkerung steigt, wächst auch das Risiko, an einer Form der Altersdemenz - Morbus Alzheimer ist daran mit 60 Prozent beteiligt und nur ein Prozent der Demenzen sind genetisch bedingt - zu erkranken. Bereits die 2,5 Millionen Altersdementen, mit denen 2030 in Deutschland gerechnet wird, sind eine Herausforderung, und der über diesen Zeitpunkt hinaus absehbare exponentielle Anstieg der Erkrankungen wird von keiner Versicherung mehr aufzufangen sein.

Heilung nicht absehbar

Schon allein die nackten Zahlen mögen den Nationalen Ethikrat - für dessen Weiterbestehen sich derzeit übrigens vor allem die FDP stark macht - dazu bewogen haben, das Thema Altersdemenz und Morbus Alzheimer in den Mittelpunkt ihrer 4. öffentlichen Jahrestagung zu stellen. Dass der Einladung diesmal signifikant mehr Frauen gefolgt sind als in den Vorjahren, ist selbst schon Symptom. Denn es sind nach wie vor Frauen, die ihre altersverwirrten Angehörigen zuhause betreuen; es sind vorwiegend Frauen, die in den professionellen Pflegediensten und mit dementen Patienten konfrontiert sind; und es sind Frauen, die sich in Betroffenengruppen organisieren.

Die schlechte Nachricht überbrachte zum Auftakt der Münchner Biochemiker Christian Haass. Demenzerkrankungen, meldete er, sind nach wie vor nicht heilbar. Es gebe mittlerweile zwar relativ zuverlässige Tests, die die frühzeitige Erkennung ermöglichen, aber noch sei keine Therapie in Sachen Alzheimer in Sicht. Medikamente, die ausfallende Botenstoffe im Gehirn ersetzen, können die Krankheit zwar eine gewisse Zeit verlangsamen, doch nicht verhindern, dass die Nervenzellen weiterhin absterben und das Gehirn schrumpft.

Weil der Vorgang der so genannten Sekretase, der Alzheimer auslöst, sich auch im gesunden Hirn abspielt und deshalb nicht einfach "ausgeschaltet" werden kann, ist die Suche nach Therapiemöglichkeiten von zahlreichen Rückschlägen und nicht tolerierbaren Nebenwirkungen begleitet. Dies gilt auch für die im kleinen klinischen Versuch (USA, Schweiz) erprobte Impfung: Zwar überwinden die Antikörper, die den zerstörerischen Prozess verhindern sollen, die Hirnschranke, doch sie lösen bei manchen Probanden dort eine lebensbedrohliche Entzündung aus, sodass der Versuch abgebrochen werden musste. Ethisch vertretbar sind solche Experimente ohnehin nur, wenn die Beteiligten noch in der Lage sind, bewusst einzuwilligen. Im Falle von Demenzerkrankungen wird Forschung an Nicht-Einwilligungsfähigen (vgl. Kasten), darauf machte auch noch einmal Fritz Henn aufmerksam, zur Gratwanderung. Als Gutachter hatte sich Henn gegen eine Neuauflage des Impfversuchs in Deutschland ausgesprochen.

Weil der künftige Nutzen den heute unheilbar Kranken wenig nützt, insistierten die Vertreter aus den Betroffenengruppen wiederholt darauf, diese möglichst gut zu versorgen und zu integrieren. Doch was wissen wir über Patienten, die verwirrt sind und sich nicht mehr äußern können? Die nur non-verbal und für Außenstehende oft missverständlich ihr Wohlbefinden oder Missbehagen zu vermitteln imstande sind? "Wir wissen viel über Demenz", erklärte der Gerontologe Andreas Kruse, "aber je mehr wir uns dem ›natürlichen Phänomen‹ zuwenden, desto mehr Fragen tauchen auf, desto geheimnisvoller wird sie". In einem aufwändigen Forschungsprojekt hat Kruses Team zum Beispiel herausgefunden, dass sich altersverwirrte Menschen viel weniger als Gesunde gegen Umwelteindrücke wehren können und deshalb reizbar und aggressiv reagieren. Fälschlicherweise wird dieses Verhalten dann der Krankheit selbst zugeschlagen, statt den Bedingungen, unter denen die Kranken leben.

Chronische Überforderung

Die Versorgung von Demenzerkrankten stellt gerade die betreuenden Angehörigen oft auf eine harte Probe. Sehr nachdrücklich führte Susanne Zank diese Belastung vor Augen. Ihre Untersuchung belegt, dass ein Drittel aller pflegenden Angehörigen klinische Symptome von Depression aufweisen und einräumen, selbst aggressiv oder gar gewalttätig zu reagieren. Dass dies auch zur Alltagsrealität in den Pflegeheimen gehört, ist bekannt. Die "dyadische Pflegesituation", sekundierte Thomas Klie, führe zu chronischer Überforderung aller an der Pflege Beteiligten. Weder das Heim noch der Pflegedienst oder die Familie alleine seien langfristig in der Lage, die Pflege sicherzustellen, ohne selbst Schaden zu nehmen.

Der Freiburger Jurist plädierte deshalb für eine "geteilte Verantwortung" zwischen Professionellen, Ehrenamtlichen und Familie, was ein grundsätzliches Umdenken seitens von Politikern, Sozialversicherungen und Wohlfahrtsverbänden voraussetze. Statt immer mehr Geld in die Pflegekasse zu pumpen und mehr Dienste einzurichten, müsse eine Infrastruktur geschaffen werden, die Laien sinnvoll in die Pflege einbezieht. In diesem Zusammenhang verschonte Klie auch den Gastgeber nicht vor deutlicher Kritik. Die mehrheitlich liberale Position des Ethikrats zur Sterbehilfe (im Juni 2005) folge einem "fragwürdigen Autonomiekonzept", das verkennt, dass Menschen in der Moderne zwar individualisiert, aber gerade dadurch in "multiplen Abhängigkeiten" leben.

Mehr als in früheren Jahren wurden bei dieser Tagung die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Disziplinen deutlich. Der wissenschaftliche "Gap" manifestierte sich nicht nur in der Rede - etwa wenn Haass die Zukunft mit dem drohenden "Altenberg" verdüsterte oder Ratsmitglieder von "Menschen mit Mängeln" sprachen -, sondern auch in den grundsätzlichen Haltungen zwischen den eher naturwissenschaftlich und eher zivilgesellschaftlich motivierten Experten. Deshalb löste wohl auch der Vortrag der Theologin Verena Wetzstein, die die Entstehung des Krankheitskonzepts "Alzheimerdemenz" nachzeichnete und dessen "reduktionistischen Kern" kritisierte, besonders heftige Reaktionen aus.

Demenz aktualisiert offenbar sehr unterschiedliche Bilder: Sind altersverwirrte Menschen am Ende ihrer Entwicklung angelangt, so dass sie nur noch "fürsorglich belagert" werden können? Oder geht es eher um die medizinische Prophylaxe bei den Früherkrankten? Oder halten uns demente Patienten, die nur das Jetzt erleben, nicht auch einen Spiegel vor, indem sie unsere vergangenheits- und zukunftsorientierte Art zu leben unbewusst unterlaufen? Man muss demente Patienten nicht romantisieren. Aber man kann in ihnen erkennen, dass unser Würdebegriff sehr einseitig an Bewusstsein gebunden ist. Eben dies macht auch die aktuelle Sterbehilfediskussion so problematisch.



Keine Katastrophe

Regine Kollek über die Bioethik-Deklaration der Unesco

Mitte Oktober hat die Unesco, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, die erste globale Erklärung über Bioethik und Menschenrechte verabschiedet. Sie gilt als Signal für die internationale Staatengemeinschaft und als erster Schritt in Richtung einer völkerrechtlich verbindlichen Formulierung von Leitlinien für die biomedizinische Forschung. Vorangegangen war, wie Regine Kollek, die nicht nur dem Ethikrat sondern auch dem internationalen Bioethik-Komitee der Unesco (IBC) angehört, am Rande der Jahrestagung berichtete, eine relativ kurze Vorentscheidungsphase, die dazu führte, dass der eigentliche Inhalt der Deklaration innerhalb von eineinhalb Jahren formuliert und verhandelt werden musste.

Umstritten ist vor allem Artikel 7, der die fremdnützige Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten - also z.B. Komapatienten, Demenzkranken, schwer geistig Behinderten - regelt. Ähnlich wie schon die Europäische Bioethik-Konvention (der Deutschland unter anderem aus diesem Grunde nicht beigetreten ist), schützt auch die Unesco-Deklaration diese besonders gefährdeten Gruppen nur unzureichend davor, dass an ihnen Medikamente oder Therapien erprobt werden, von denen sie selber keinen Nutzen erwarten können. Kollek sieht hier ein Dilemma. Einerseits sollen Standards international vereinheitlicht werden, um insbesondere Schwellenländer auf bestimmte bioethische Grundsätze zu verpflichten und die Forschung aus der Grauzone zu holen. Andererseits würden auf diese Weise umstrittene Standards ohne Not festgeschrieben. Die deutsche Verhandlungsführung hat zu Artikel 7 eine eigene Positionserklärung vorgelegt.

Eine Parallele zur Klonverbotsdebatte will Kollek allerdings nicht sehen. Der Nutzen des therapeutischen Klonens sei viel weniger zu erkennen als beispielsweise bei Arzneimittelstudien an bestimmten Patientengruppen. Die Deklaration sei "keine bioethische Katastrophe", aber sie beinhalte die gleichen Probleme wie die Bioethik-Konvention und zeige, dass sich auch in den Verhandlungen auf internationaler Ebene die angelsächsische utilitaristische Haltung durchsetze.

u.b.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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